Zentralblatt für Jugendrecht 85 (6), S. 268, 1998
Der Psychologe und Sachverständige Dr. Bakalar berichtet, dass auch in der tschechischen Fachliteratur das Phänomen der Aufwiegelung (Beeinflussung) des Kindes durch einen Elternteil gegen den anderen schon seit Jahrzehnten bekannt war und z.B. ein umfangreiches Forschungsprojekt (Trnka, 1974) die hohe Korrelation zwischen kindlichen Störungen und den Grad seiner Aufwiegelung aufzeigte.
Die wesentlichen Begleiterscheinungen des Phänomens und seine Folgen wurden zuerst durch den amerikanischen Psychiater R. A. Gardner unter der Bezeichnung "Parental Alienation Syndrome" zusammengefasst und ausführlich mit Fallbeispielen beschrieben. Er fand, dass ein voll von einem Elternteil abhängiges und von diesem gegen den anderen Elternteil beeinflusstes Kind seinen eigenen Komplex von Einstellungen gegen den abwesenden Elternteil entwickelt und diesen schließlich ablehnt.
Die meistenteils englischsprachige wissenschaftliche
Fachliteratur zum "Parental Alienation Syndrome" (PAS)
war zunächst nur wenigen Fachleuten der Tschechischen Republik
bekannt. Das tschechische Ministerium für Soziale Angelegenheiten
ergriff aber 1994 die Iniative zur Veröffentlichung einer
Übersetzung ausgewählter Teile des Werkes von Psychiaters
Prof. R. Gardner,
im Rahmen des Projekts des "Jahres der Familie 1994".
Diese Übersetzung wurde hauptsächlich für die Sozialabteilungen
der Kreisbehörden vorbereitet, welche der Aufsicht des Ministeriums
unterstehen.
Sozialarbeiter/innen befassen sich seither mit den Erkenntnissen
über PAS und versuchen danach zu handeln.
Seit etwa 1996 ist PAS auch auf breites Interesse anderer Fachleute wie Psychologen, Ehe- und Familienberater, Psychiater, Gerichtssachverständige, Rechtsanwälte u. a. gestoßen. PAS war Schwerpunktthema auf Tagungen und findet sich in Sachverständigengutachten und als Folge auch in Gerichtsbeschlüssen zu Sorgerecht und Umgang. In jüngster Zeit ist PAS auch Thema für Dissertationen. Die Arbeit eines Absolventen einer Akademie für Sozialarbeit hat gerade die Häufigkeit von PAS in der Tschechischen Republik untersucht.
Kommentar: Der Kontrast zu Deutschland könnte nicht größer sein. Obwohl es hier traditionell einen viel engeren Bezug zur englischen Sprache und speziell zu Amerika gibt und seit jeher alle Möglichkeiten des Zugangs auf die dortige Fachliteratur offen standen, erwähnte bis zur Veröffentlichung von Kodjoe/Koeppel (DAVm 1/ 1998) und der Übersetzung des Aufsatzes von Ward&Harvey (ZfJ 6/1998), soweit uns bekannt ist, lediglich Prof. W. Klenner im viel zitierten Aufsatz "Rituale der Umgangsvereitelung bei getrenntlebenden oder geschiedenen Eltern" (FamRZ 1995, S. 1529- 1536) kurz das grundlegende Buch von Gardner "The Parental Alienation Syndrome" und PAS. Selbst danach war es bis jetzt zu keinerlei Diskussion des Phänomens gekommen, obwohl bei einer wissenschaftlichen Arbeitsweise eine zumindest kritische Auseinandersetzung mit dem Thema, zu dem es andernorts schon seit 1985 sehr umfangreiche Literatur gibt, eigentlich absolut selbstverständlich sein müsste. In jeder Datenbank zu Psychologie/Psychiatrie etwa, würde man z.B. unter dem Stichwort "Eltern-Kind-Beziehung" (parent-child relation) zwangsläufig auf diese Literatur stoßen. Außerdem gibt es Fachbücher zu psychologischen Fragen bei Trennung/Scheidung und Sachverständigengutachten, die PAS beschreiben und die sicher auch bei deutschen Kindern unmittelbar anwendbar und relevant sind. Bei der juristischen Literatur und den zahlreichen Urteilen (vgl. z.B. Urteil des Cour d'Appel Québec, 1994) die auf PAS eingehen, ist dies wegen der völlig anderen rechtlichen Struktur allerdings nur bedingt der Fall.
Sehr bemerkenswert ist auch, dass die Iniative
zur Befassung mit PAS vom Sozialministerium ausging und sich zunächst
Sozialarbeiter/innen mit dem Thema praktisch auseinandersetzten.
Auch hier könnte der Kontrast zu Deutschland nicht größer
sein. Die Kontrolle und Arbeitsweise der Jugendämter ist
bei uns ein heiß diskutiertes Thema, vgl. z.B. eine Anfrage im Bundestag,
oder R. Wiesner ,,Problemaufriß zum Thema "Kontrolle/Arbeit der Jugendämter"
(Beitrag zur Tagung "Kindeswohl - ..." in der Evang.
Akademie Bad Boll, 4.-6.11.1996). Die Kontrolle obliegt, anders
als in der Tschechischen Republik, der kommunalen Selbstverwaltung.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII, Kapitel V, VI, macht
es aber sehr wohl zur Pflicht der Jugendhilfeauschüsse, Landesjugendhilfeausschüsse,
Landesjugendämter, obersten Landesjugendbehörden, sowie
entsprechender Bundesbehörden aktuelle Problemlagen zu erörtern
und die Tätigkeit der Jugendhilfe anzuregen und zu fördern.
Der mit PAS zusammengefasste Themenkreis würde ganz sicher
auch dazu gehören.