Nachdem in Teil I die deutsche Rechtslage und Praxis aufgezeigt wurde, wollen wir hier zunächst zum Vergleich dazu die Situation im Ausland etwas beleuchten. Dann soll auf die Psychologie kindlicher Aussagen genauer eingegangen werden.
Es herscht zumeist Einigkeit darüber, dass Kinder nicht im Rahmen der allgemeinen Verhandlung über Sorge-/ Umgangsrechtsfragen, also in Anwesenheit ihrer Eltern, angehört werden sollen. Die Erwartungshaltung und der Einfluss der Eltern, vor allem des Wohnelternteils, führt ohnehin fast immer, auch bei einer Anhörung in camera (Richterzimmer oder, besonders bei kleinen Kindern, besser einem speziellen kindgerechten Anhörraum) zu einem erheblichen Loyalitätskonflikt und einer psychischen Belastung des Kindes. Einigkeit besteht auch darüber, dass das Gericht nicht nur ein Recht hat, sich bei einer so wichtigen, auf die langfristige Zukunft gerichteten Entscheidung, einen direkten Eindruck vom "Streitgegenstand" zu verschaffen, sondern auch, dass die Autorität bei der Durchführung dieser Anhörung allein dort liegt. Es liegt ganz in der Obliegenheit des Gerichts, davon in einer Weise Gebrauch zu machen, dass sich Hinweise auf "heimliche Richter" (psychologische Sachverständige oder Jugendamt) ganz erübrigen.
Wir haben auch schon darauf hingewiesen, dass man im Ausland, Kindesanhörungen, besonders bei Entscheidungen über eine Rückführung nach dem Haager Übereinkommen über internationale Kindesentführung, weit reservierter gegenübersteht, wie das sehr deutlich in der zusammenfassenden Erklärung der Haager Special Commission von 2001 zum Ausdruck kommt. Dazu äusserte sich auf der von NCMEC /U.S. Aussenministerium veranstalteten Tagung in Alexandria, VA, 1-2. Nov. 2000, besonders ein kanadischer Richter sehr ausführlich. Er sehe zwar normalerweise bei Rückführungsentscheidungen von einer Kindesanhörung ab, bemühe sich aber in einem direkten Gespräch mit dem Kind, diesem die Entscheidung kindgerecht zu erläutern.
Besonders kritisch, und deshalb wahrscheinlich auch selbst in den einzelnen Staaten der USA, wo Wortprotokolle von Gerichtsverhandlungen sonst weitgehend Standard sind, unterschiedlich geregelt ist aber die Frage, wer bei einer solchen Anhörung anwesend sein darf, wie sie protokolliert wird, und in welchen Ausmass diese Protokolle auch den Parteien (Eltern) zur Einsicht gelangen können. Es besteht ein erheblicher Konflikt zwischen dem Schutz des Kindes vor übergroßer psychischer Belastung und dem Recht der Eltern auf einen fairen Prozess.
Einen
ganz ausgezeichneten Überblick darüber, aus rechtlicher und
psychologischer Sicht, bietet der Aufsatz von Eric Speth, J.D., Ph.D.,
Atascadero State Hospital (also offensichtlich promovierter Jurist und
promovierter Psychologe): FACTORS AFFECTING CHILDRENS' POWER TO CHOOSE THEIR CARETAKERS IN CUSTODY
PROCEEDINGS (1995).
Er weist zunächst darauf hin, dass bei Kindesanhörung durch Richter die
Gefahr einer Missinterpretation des Kindeswillens sehr hoch sei, weil
Richter dafür keine oder nur geringe Ausbildung besitzen und Anhörungen
typischerweise nur 15- 30 Minuten dauern. In dieser Zeit muss zunächst
festgestellt werden, ob das Kind überhaupt reif genug für eine Aussage
ist, und dann genügend Information erhalten werden, aus der ein
gültiger, klar begründeter Kindeswille hervorgehen soll.
Dann wird auf den historischen Hintergrund eingegangen, der Wandlung vom alleinigen Vaterrecht zur "Tender Years Doctrin" (Kleinkind gehört zur Mutter). Diese Doktrin wurde jetzt in allen Staaten der USA durch das Prinzip "Best Interests of the Child" (Kindeswohl) ersetzt. Trotzdem, und obwohl einige Staaten sogar die Tender Years Doctrin als verfassungswidrig erklärt haben, weil sie gegen Väter diskrimiere, komme sie in einzelnen Gerichtsentscheidungen immer wieder zum Vorschein. Besonders bemerkenswert an den Scheidungsstatistiken die dann angeführt werden, ist, dass die meisten Sorgerechtsentscheidungen aussergerichtlich getroffen werden, in einem Landkreis in Michigan z. B. in 1981 von 2600 Scheidungen nur bei 26 eine gerichtliche Entscheidung nötig wurde.
Es folgt eine (allerdings etwas veraltete) Übersicht über die Statuten einzelner U. S. Staaten. In 1984 hatten 33 (aus 50) Staaten die richterliche, gerichtliche Berücksichtung des Kindeswillens bei einer Sorgerechtsentscheidung zugelassen, immer vorausgesetzt, dass das Kind dafür reif genug sei. Der Kindeswille könne aber niemals das entscheidende Kriterium sein. Das ist immer das Kindeswohl. Dem Kindeswillen kommt Gewicht nur entsprechend dem Beitrag zu, den die kindlichen Argumente bei der Abwägung des Kindeswohlkriteriums leisten (Fanning vs. Warfield, 1969). In einigen Staaten können Kinder über 14 (oder auch 12) den Wohnelternteil wählen, vorausgesetzt, dass beide Eltern dafür gleich gut geeignet sind. [Gemeinsame rechtliche Sorge ist in den USA schon lange weit verbreiteter Standard, zunehmend aber auch gemeinsame physische Sorge, bei der die Kinder etwa gleich viel Zeit mit den beiden Elternteilen verbringen, also auch abwechselnd wohnen.] Allerdings wurden auch einige solche Entscheidungen wieder aufgehoben, weil sie den Kindern erlauben würden, ihre Eltern gegeneinander auszuspielen und dadurch Disziplinprobleme entstehen könnten.
In einigen Staaten wird generell davon ausgegangen, dass Kinder unter 10 nicht reif genug für eine Anhörung sind. In den meisten Staaten allerdings wird nur vorausgesetzt, dass die Kinder ,,alt genug sind und ausreichende Intelligenz besitzen" um einen relevanten Kindeswillen zu äussern. Sie sollten auch zwischen "wahr" und "falsch" unterscheiden können. Diese vagen Kriterien, die dann allein vom Gericht auszulegen sind (für den Intelligenztest reicht es manchmal, wenn das Kind sein Alter, seine Adresse und Schulklasse nennen kann), geben dementsprechend häufig zu kontroversen Entscheidungen und Berufungsverfahren Anlass. Dafür werden eine ganze Reihe von Beispielen gebracht. Zahlreiche Kontroversen bestehen auch darüber, ob und unter welchen Umständen eine Kindesanhörung durchzuführen ist, wie sie zu gestalten ist und wann die Unterlassung einer Anhörung einen gravierenden Verfahrensfehler darstellt, der zur Aufhebung der Entscheidung führt. Diese Kontroversen beginnen schon mit der exakten Interpretation des klassischen englischen Stammwortes "shall", das die meisten Statuten in diesem Zusammenhang verwenden.
Eine kritische, und
unterschiedlich geregelte Frage, ist die nach dem Recht der Eltern auf
einen fairen Prozess. In drei Staaten können Eltern ihre Kinder in den
Zeugenstand rufen lassen. Das Gericht kann jedoch dieses Ersuchen
ablehnen, oder die Eltern können einer Anhörung in camera
(Richterzimmer) zustimmen. Allgemein, nach dem Uniform Marriage and Divorce Act, sec. 404(a) gilt,dass:
The
court may interview the child in chambers to ascertain the child's
wishes as to his custodian and as to visitation. The court may permit
counsel to be present at the interview. The court shall cause a record
of the interview to be made and to be part of the record in the case. Das
Gericht muss (soll) also ein Protokoll der Anhörung erstellen, das Teil
der Gerichtsakte wird und kann Anwälten erlauben an der Anhörung
teilzunehmen. Trotzdem gibt es auch dazu viele unterschiedliche
Auslegungen und zahlreiche Kontroversen die bis zum Supreme Court
ausgetragen wurden. In manchen Gerichtsbezirken wird versucht die
Problematik zu verringern, indem der Umfang der Anhörung dem Inhalt
nach eingeschränkt werden soll, z. B. nur auf den Kindeswunsch bzgl.
des Wohnelternteils, aber unter Ausschluss von Fragen z. B. nach dem
Alkoholkonsum der Eltern etc. Interviews mit Richtern zeigen jedoch,
dass ein großer Anteil trotzdem darüber hinausgehende Fragen stellt.
Die Art und der Inhalt einer Kindesanhörung hängt erwartungsgemäß auch
ganz wesentlich davon ab, in welcher Form ein Protokoll der Anhörung
angelegt wird. Die Gefahr einer unangebrachten Befragung ist erheblich
reduziert, wenn der Richter * weiss, dass das Protokoll zu einer
genauen Überprüfung durch die Parteien oder einem Berufungsgericht verwendet werden kann. Viele Staaten fordern daher in ihren Statuten ausdrücklich, dass ein
stenographisches oder Tonbandprotokoll angelegt wird
(z. B. Colorado, 1973, Montana 1991.) In anderen Staaten ist das nur
erforderlich, auf Wunsch eines Elternteils, in wiederum anderen können
Eltern auf dieses Recht verzichten. In wiederum anderen Staaten, steht
das vollständige Protokoll nur dem Berufungsgericht zur Verfügung, etc.
Unterschiedlich ist auch, ob die Anwälte der Eltern der Anhörung
beiwohnen können oder sogar müssen, und ob sie dann auch Fragen an das
Kind stellen können, oder nur dem Gericht einen Fragenkatalog
vorschlagen können. Auch dazu gibt es zahlreiche Entscheidungen von
Berufungsgerichten.
Im zweiten Teil des Aufsatzes kommt der Psychologe zu Wort, wenn es um die Verlässlichkeit kindlicher Aussagen geht. Kinder messen z. B. häufig Worten eine ganz andere Bedeutung zu als Erwachsene. Kindliche Zuhörer gingen auch meist davon aus, dass sie einen erwachsenen Sprecher verstanden haben, stellen also keine klärenden Fragen, sondern ordnen das Gesagte in ihre eigene Vorstellungswelt ein. Sie sind auch leicht durch suggestive Fragen beinflussbar, womit sich insbesondere die forensische Psychologin Loftus (U. Washington) sehr ausführlich beschäftigt hat. Die Gefahr, dass falsche Schlussfolgerungen aus kindlichen Aussagen gezogen werden ist aber auch sehr gross, wenn diese nicht ausreichend hinterfragt werden. Einige Beispiele für solche problematischen richterlichen Anhörungen werden zitiert.
Dann kommt natürlich die Frage, ob die intensiven Loyalitätskonflikte, denen Kinder besonders bei hochstrittiger Trennung / Scheidung ausgesetzt sind, und deren Auswirkung auf die kindlichen Aussagen richtig erkannt werden. Die Ursache für eine ablehnende Haltung des Kindes gegenüber einen Elternteil und Bevorzugung des anderen oder des Parental Alienation Syndroms müsse keineswegs immer eine intensive "Gehirnwäsche" sein (dazu wird aber ein Beispiel aus einem Urteil zitiert), es genügten auch abwertende Gesten etc. (Gardner, 1986). Kindern wären auch vor einer Anhörung häufig einem "coaching" unterworfen, d.h. es wird ihnen die Erwartungshaltung der Eltern (vor allem natürlich des Wohnelternteils) nahegebracht. Nicht selten sei die kindliche Preferenz für einen Elternteil auch schon durch die Erwartung materieller Vorteile oder einer weniger strengen Erziehung entscheidend beeinflusst (auch dafür Beispiele).
Als nächstes wird die mögliche richterliche Voreingenommenheit beleuchtet. Es zeige sich z. B., dass jüngere Richter, besonders in urbanen Gebieten, weit eher bereit sind auch Vätern das Sorgerecht zuzusprechen, während ältere Richter noch weit häufiger insgeheim nach der Tender Years Doctrin entschieden. Die Ergebnisse empirischer Forschung, wonach Väter Kinder gleich gut aufziehen können, seien zu ihnen noch nicht durchgedrungen. [Vgl. dazu die besonders einfache Logik eines zumindest 1992 noch amtierenden U. S. Richters, offensichtlich aus einem recht ländlichen Gebiet]. Eigene Kindheitserlebnisse können auch eine Rolle spielen.
Theoretisch seien Richter auf die Prüfung des Wahrheitsgehaltes einer kindlichen Preferenz in der Sorgerechtsentscheidung beschränkt, würden sich aber sehr oft die Rolle eines Experten (gerichtlichen Sachverständigen) anmaßen, wenn sie Charakter, emotionelle Reife etc. der Beteiligten beurteilten. In einem Fall hat ein Richter sogar einen psychologischen Test im Richterzimmer wiederholt und kam zu ganz anderen Schlussfolgerungen als der forensische Experte. Er hat es aber unterlassen, darüber Protokoll zu führen, was schließlich wesentlich mit zur Aufhebung des Urteils beitrug. Dass ein Richter sich zum Charakter der Eltern äussert, einen Vater als ,,arrogant, kritisierend, über-fürsorglich" bezeichnet wäre bei uns nicht einmal bemerkenswert, geschweige denn rügenswert.
Der letzte Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit der seit der Kindschaftsreform (1998) auch in Deutschland relevanten Stellung und Rolle eines Anwalt des Kindes (Guardian Ad Litem), sowie mit psychologischen Sachverständigen die recht häufig bei Sorgerechtsentscheidungen vom Gericht beauftragt werden. Ob und wie diese Personen aber direkt bei richterlichen Kindesanhörungen beiwohnen / mitwirken können, wird jedoch im Aufsatz nicht erwähnt. Wir wollen versuchen diese uns nicht unwesentlich erscheinende Frage an Hand der aktuellen Statuten verschiedener Staaten zu klären. Erwähnen möchten wir hier nur noch, dass in dem in den USA herrschenden anderen Gerichtssystem, die Beibringung eigener psychologischer Experten durch die Parteien und Kreuzverhöre (bzgl. der gerichtlich beauftragten Sachverständigen oder von Zeugen) auch in Kindschaftsrechtverfahren durchaus möglich und auch üblich sind.
In den folgenden Berichten wollen wir weiter auf psychologische Arbeiten zur Kindesanhörung eingehen und auch aus aktuellen Gesetzen (Statuten) und Gerichtsentscheidungen zitieren.
* Für Richter könnte selbstverständlich im folgenden genau so gut immer auch Richterin stehen.