Teil II unserer Artikels über Kindesanhörung beleuchtete vor allem die Rechtspraxis mit der man (in den U.S. A.) versucht der beträchtlichen Konfliktsituation zwischen der psychischen Belastung von Kindern bei einer richterlichen Anhörung und dem Recht der Eltern auf einen offenen, fairen Prozess Rechnung zu tragen, einer Problematik der in Deutschland anscheinend nicht einmal im Ansatz Rechnung getragen wird, wenn eine mangelnde oder gänzlich fehlende Protokollierung einer Kindesanhörung allenfalls nur dann gerügt wird, wenn das Berufungsgericht deshalb nicht in der Lage ist das Erstverfahren ausreichend zu überprüfen (vgl. Teil I). Die Verpflichtung zu einer Protokollierung ist zudem nicht direkt aus dem relevanten Gesetzestext zur Anhörung der Eltern (§50a FGG) oder Kinder (§50b FGG) ersichtlich, sondern allenfalls indirekt ableitbar, während sie selbst im allgemeinen Uniform Marriage and Divorce Act, sec. 404(a) der USA explizit festgestellt wird und von den einzelnen Bundestaaten in ihren Statuten weiter ausgestaltet wird, allerdings unterschiedlich, was aber wegen der Schwierigkeit des Problems nicht überraschen sollte.
Es ist klar, je offener Kindesanhörungen sind, je mehr Personen dabei zugelassen sind, um das Recht der Eltern auf einen fairen Prozess zu gewährleisten, umso größer kann die psychische Belastung des Kindes werden. Mit dieser Problematik und der Verlässlichkeit mit der der "Kindeswille" überhaupt in einer richterlichen Anhörung ermittelt werden kann, beschäftigt sich der auch als Sachverständiger sehr erfahrene forensische Psychiater R. Gardner ausführlich und kritisch, u. a. in: Judges Interviewing Children in Custody/Visitation Litigation (1987).
Zunächst sind da einmal technische Fragen. Wenn, was häufig geschieht, ein Richter dem Kind versichert, dass das Gespräch vertraulich sei, während (in den USA) jedes Wort protokolliert wird, besteht eine große Gefahr, dass sich das Kind nach der Trennung seiner Eltern von einer weiteren Respektperson betrogen fühlt, wenn dieses Protokoll über die Anwälte dennoch zur Kenntnis der Eltern gelangt. Solche Versprechen sollten daher nicht gemacht werden. Kinder betreten das Richterzimmer fast immer mit großer Angst, was die Gültigkeit ihrer Aussagen wesentlich kompromittieren kann. Diese Aussagen werden auch wesentlich davon beeinflusst, welcher Elternteil in der Nähe ist und wer es zu der Anhörung gebracht hat oder wer zuletzt mit dem Kind ausgiebig Kontakt hatte (auch in einem spasserfüllten Besuchswochenende, zum Beispiel). Gardner rät, dass danach gefragt wird, und das Kind möglichst von beiden Eltern gemeinsam, oder wenigstens von einer neutralen Person zur Anhörung gebracht wird.
Die den meisten Familien eigene Terminologie kann zu weiteren Missverständnissen Anlass geben, wenn sie, in Abwesenheit der Eltern, für den Richter nicht "übersetzt" werden kann. Kindern sollten inbesondere keine Ja / Nein Fragen gestellt werden, wie sie in Kreuzverhören üblich sind, sondern zu freier Erzählung veranlasst werden, die gegebenenfalls nichtsuggestiv so zu hinterfragen ist, dass weitere Details offenbar werden. Kinder, besonders wenn sie schon zuvor wiederholt befragt wurden, z. B. in Beratungsstellen, tendierten dazu Antworten zu geben, mit denen sie meinen sich bei Eltern oder dem jeweiligen Fragesteller beliebt zu machen.
Wir haben schon erwähnt, dass das Gericht zunächst prüfen muss, ob das Kind überhaupt über den nötigen Reifegrad für eine Anhörung in Sorgerechtsfragen verfügt. Dazu sollte es u.a. nach den Statuten von Florida zwischen zwischen Wahrheit und Lüge (Phantasien) unterscheiden können. Gardner schildert als Beispiel die in camera Anhörung eines vierjährigen Mädchens, bei der sowohl er als auch die beiden Anwälte anwesend waren. Wie so oft in hochstrittigen Verfahren, ging es dabei auch um den Vorwurf des sexuellen Kindesmissbrauchs gegen den Vater, weil das Kind der Mutter gesagt haben soll, ,,Vater hat den Weihnachtsmann umgebracht", ,,Vater hat den Osterhasen umgebracht", und schliesslich ,,Vater hat den Finger in meine 'gina' gesteckt". Niemand habe dann daran gedacht, eine Expedition zum Nordpol zu schicken, um nachzusehen, ob der Weihnachtsmann wirklich tot ist, oder ob der tote Körper des Osterhasen gefunden werden kann, aber eine ganze Horde sei über die Familie wegen des dritten Vorwurfs hergefallen. Obwohl ein vierjähriges Kind, das an Weihnachtsmann und Osterhasen glaubt, ipso facto nicht zwischen Tatsachen und Phantasie unterscheiden kann, waren sich die Interviewer einig, dass es das bezüglich des Missbrauchsvorwurfs könne und damit dieser weiter untersucht werden müsse, der nach Gardner aber Phantasie war, genau wie die ersten beiden Behauptungen.
Wir wollen aber die ernste Problematik keineswegs verkennen, die in dem unbedingt erforderlichen Schutz eines Kindes, der Wahrheitsfindung, aber auch einer Belastung durch unnötige Befragung, "Therapie" vor Sicherung der Tatsachen, sowie einer meist ganz wesentlichen Verlängerung der Prozessdauer auf Grund solcher Anschuldigungen liegt. Um unnötige Belastungen zu vermeiden, sollte auch in einer richterlichen Anhörung eine solche Aussage sorgfältig hinterfragt werden, statt allzu eilfertig ein Glaubhaftigkeitsgutachten anzuordnen, welches meist ganz erhebliche Zeit in Anspruch nimmt. Ein Jahr ist nicht ungewöhnlich, aber "unendlich" lang für daskindliche Zeitempfinden, ganz abgesehen davon, dass die Prinzipien solcher Glaubhaftigkeitsgutachten und das was sie zu leisten vermögen, oder selbst bei perfekter Anwendung auch nicht, oft schwer zu vermitteln sind.
Beispiel aus einem Glaubhaftigkeitsgutachten (AG München): Am xx.xx.1996 informierte die zuständige Richterin die SV telefonisch über den Auftrag. Hierbei gab sie an, X. X. habe sich im Rahmen ihrer Anhörung zu dem inkrimierten Geschehen nur kurz geäußert. Sie, die Richterin, habe nicht nachgefragt, sondern das Gutachten in Auftrag gegeben. ......Im vorliegenden Fall kann die dokumentierte Aussage nicht mit anderen früheren Aussagen verglichen werden, da solche nicht vorliegen. Lediglich die Aussage vor Gericht wäre hier vergleichsweise relevant. Sie ist aber aussagepsychologisch insofern nicht verwertbar, da die Probandin hier keine detaillierten Angaben machte. Folge: Ein Jahr vergeht, bevor die Beschuldigung, trotz fortgesetzter "Therapie" durch "Aufdecker", auch für das Gericht schließlich überzeugend ausgeräumt ist, allerdings nie protokolliert, und überhaupt ohne jede Erwähnung des gesamten Vorgangs im Scheidungsurteil, statt dessen aber ausgiebig die Attestierung negativer Charakterzüge des Vaters durch das Gericht (eine wiederholt vom Vater beantragte und auch vom Jugendamt empfohlene Begutachtung des Familiensystems durch psychologische Sachverständige wurde ohne jede Begründung einfach verweigert), auf die allein zurückzuführen sei, dass die Kinder den Umgang zunehmend und später ganz ablehnten. Erst der Senat des Berufungsgerichts hat, als der Vater wieder auf die Auswirkungen dieser Vorgänge auf das Kindeswohl und seine Kontakte mit den Kindern hinwies, im Anhörungsprotokoll seine einhellige Überzeugung festgehalten, dass die Beschuldigungen ,,zu Unrecht" erhoben worden waren und hat dies ausführlich begründet, z. T. mit Dokumenten, die auch dem Amtgericht schon vorgelegen hatten, aber von diesem nicht einmal mündlich bestätigt wurde, dass sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurden. Gesamtdauer des Verfahrens: 3 Jahre, 7 Monate.
Nach Gardner sollten Richter erkennen, dass ihre Anhörung von vornherein erheblichen Einschränkungen unterliegt, und damit besser in die Lage gebracht werden, den Wert der gewonnene Information richtig einzuschätzen. Um wirklich die eigentliche Frage, wer der geeignetere Wohnelternteil sei (über den rechtlichen Teil der Sorge braucht ja meist nicht entschieden werden, weil gemeinsame Sorge der Normalfall in den USA ist) zu entscheiden, sei es notwendig alle drei Parteien (Eltern, Kind) zu hören, aber nicht nur einzeln, sondern auch mit Beobachtung ihrer Wechselwirkung, und das in den verschiedenen Kombinationen und wiederholt. Erst dann sei es auch möglich Behauptungen sicher genug zu erkennen, mit denen sich Kinder nur bei dem jeweils anwesenden Elternteil beliebt machen wollen. Mit Kindern müsse zudem erst über einige Zeit ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden, um ihnen die Furcht vor einer Aussage zu nehmen. All das sei aber in einer meist zeitlich sehr knapp bemessenen, noch dazu einmaligen richterlichen Anhörung kaum möglich.
Gardner geht dann (erwartungsgemäss) auf den Einfluss des Parental Alienation Sydroms, das seiner Einschätzung nach in unterschiedlichen Graden bei einem Großteil hochstrittiger Sorgerechtsverfahren vorliegt, auf die Kindesanhörung ein. Richter sollten sich dieses Einflusses bewusst sein, da sie sonst sehr leicht auf das Eis geführt wurden und zu einem ungerechten Urteil kämen. Dabei sei der Terminus "Gehirnwäsche" zu eng, obwohl das auch eine Komponente sein kann. PAS schliesse vielmehr auch wesentlich nicht nur bewusste sondern auch unbewusste Faktoren im entfremdenden Elternteil und -das sei besonders wichtig, im Kind ein. Die Kinder entwickeln dann einen Belastungseifer gegen den anderen Elternteil, oft mit Phrasen die der Ausdruckweise des "geliebten" Elternteils sehr gleichen und deren Bedeutung sie möglicherweise gar nicht voll verstehen (was man nur durch Hinterfragen klären kann). Oft haben sie ihre Litanei durch wiederholte Befragung und auch Coaching so gut eingelernt, dass sie selbst sehr erfahrene Interviewer täuschen können. Gardner schlägt deshalb eine Reihe von allgemeinen Fragen vor, die damit beginnen, dass das Kind seine Eltern (den "geliebten" und dann den "abgelehnten" Elternteil), seine jeweiligen Kontakte, einschließlich der zu den Verwandten der Eltern, beschreiben soll.
Noch sehr viel ausführlicher gehen S. S. Clawar und B. V. Rivlin in ihrem Buch ,,Children Held Hostage" (1991) mit Kap. IV ,,Detection Factors. Uncovering the Programmers's Themes and Processes", S. 69- 103, auf dieses Thema ein, mit einem detailliert und sehr kritisch kommentierten, tabellarisch angeordneten Beispiel einer Kindesanhörung, S. 95-103. Es soll Sachverständigen, Therapeuten, Richtern und Eltern helfen, den Einfluss von PAS (programming / brainwashing) zu erkennen und so ein offenes Forum für Diskussion und Klärung der Sorgerechtsfragen schaffen. Es soll auch die zuvor einzeln diskutierten 25 Indizien (detection factors) für PAS illustrieren (vgl. Inhaltsverzeichnis). Ein Beispiel eines guten richterlichen Anhörungsstils bei einem 10 jährigen Kind, bei dem die Mutter Programmierung durch den Vater unterstellte, ist auf. S. 88 ff. wiedergegeben.
Fragen müssten unbedingt neutral sein und so Offenheit fördern, statt soziologisch-emotional geladen oder moralisch wertend zu sein. Kinder würden, wenn man sie möglichst frei und unbefangen erzählen ließe, oft ganz unbeabsichtigt wichtige Informationen liefern. Besonders lesenswert scheinen, angesichts der deutschen Gerichtspraxis, bei der die Fragestellung praktisch nie wiedergegeben wird, die Beispiele und Kommentare aus denen der oft sehr gravierende Einfluss der Fragestellung auf den ostensiblen "Kindeswillen" deutlich wird.
Wie z. B. Gardner ausführlich erläutert, sind richterliche Kindesanhörungen von vornherein erheblichen Beschränkungen unterworfen,weil die Zeit hierfür immer sehr knapp ist und die Beurteilung der Situation meist sehr wichtige Beobachtung der Wechselwirkung zwischen den Familienmitgliedern, und das in allen Kombinationen, nicht erfolgen kann. Es ist deshalb, und angesichts der langfristigen Tragweite einer Sorge-/ Umgangsrechtsentscheidung ersthaft zu fragen, ob die deutsche Praxis, bei der das Gericht ohne jede Begründung einfach eine solche, vor allem bei einer hochstrittigenTrennung / Scheidung notwendige ausführliche Diagnose des Familiensystems, insbesondere des (dann meist erheblich beeinflussten) Kindeswillens, der Bindung an die Eltern, und der Erziehungsfähigkeit der Eltern durch psychologische Sachverständige ablehnen kann und sich selbst zuschreibt mit ausreichender Sicherheit über den "Kindeswillen" und nicht selten sogar auch über den "Charakter" der Eltern befinden zu können, dem Recht auf einen fairen Prozess entspricht. Ganz im Gegensatz dazu, ist in den Statuten amerikanischer Bundesstaaten ausdrücklich festgehalten, dass nicht nur das Gericht aus seinem Ermessen heraus eine solche Begutachtung anordnen kann, sondern dass es einem diesbezüglichen Ersuchen einer der Parteien nachkommen muss, es sei denn der Antrag wurde offensichtlich nur zum Zwecke der Verfahrensverzögerung gestellt. Eine Ablehnung ist aber vom Gericht im Detail zu begründen, wie auch wiederholt durch Berufungsentscheidungen bestätigt wurde.
So zum Beispiel Statute 14-10-127 - Evaluation and reports von Colorado:
(1) (a) (I) In all proceedings concerning the allocation of parental responsibilities with respect to a child, the court shall, upon motion of either party or upon its own motion, order the court probation department, any county or district social services department, or a licensed mental health professional qualified pursuant to subsection (4) of this section to perform an evaluation and file a written report concerning the disputed issues relating to the allocation of parental responsibilities or parenting time arrangements, or both, for the child, unless such motion by either party is made for the purpose of delaying the proceedings. No later than January 1, 1990, any court or social services department personnel appointed by the court to do such evaluation shall be qualified pursuant to subsection (4) of this section. When a mental health professional performs the evaluation, the court shall appoint or approve the selection of the mental health professional. ....
Es folgt dann u.a. eine Aufzählung der Mindestanforderungen an die Qualifikation Sachverständiger und an deren schriftlichen Bericht, soweit sich dieses schwierige Problem per Gesetz exakt regeln lässt. Selbstverständlich haben Parteien in den USA im Sinne eines fairen Prozesses ausdrücklich das Recht, nicht nur wie bei uns zu dem Gutachten Stellung schriftlich Stellung zu nehmen (allerdings ohne jede Kontrolle ob sie vom Gericht überhaupt irgendwie zur Kenntnis genommen wurde), sondern Sachverständige einem ausführlichen Kreuzverhör zu unterziehen. Aber die Qualität psychologischer Gutachten und die oft, besonders für das kindliche Zeitempfinden, viel zu lange Zeitspanne bis es vorliegt, sind ein weiterführendes heikles Thema von erheblicher Wichtigkeit.
Wir wollen, in weiterer Folge, obwohl dies, angesichts allein der schon 50 unterschiedlichen Statuten der U. S. Staaten, recht mühsam ist, an Hand konkreter Beispiele noch genauer darlegen, wie anderswo versucht wird, unserer Forderung nach einer kindgerechteren Anhörung, bei gleichzeitig mehr Transparenz im Sinne des Elternrechts auf einen fairen Prozess nachzukommen. Es sollte aber schon deutlich genug geworden sein, dass anderswo, trotz des unvermeidlichen Konfliktes zwischen diesen beiden Forderungen sehr viel mehr Mühe auf eine Realisierung verwendet wurde, als bisher bei uns. Es ist völlig unbestritten, dass die Autorität bei der Gestaltung der Kindesanhörung allein beim Gericht bleiben muss, aber es wäre sicher ernsthaft zu erwägen ob nicht auch, wie in den USA, Anwälte, Sachverständige oder Verfahrenspfleger gegebenenfalls dabei anwesend sein sollen, um den tatsächlichen Kindeswillen sicherer ermitteln zu können und für mehr Transparenz zu sorgen. Zu letzteren gehört natürlich insbesondere auch eine weit bessere Protokollierung (möglichst Wortprotokoll) der Anhörung, einschließlich der oft kritischen Fragestellung. Unter besonderen Umständen könnte ja dann immer noch, wie z. B. in den USA auch ausdrücklich vorgesehen, ein Teil der Kindesaussagen durch Gerichtsbeschluss unter Verschluss genommen werden, oder z. B. nur einem Berufungsgericht zugänglich gemacht werden.
Ein weiteres noch nicht gelöstes Problem, obwohl es schon oft zur Sprache kam, ist natürlich, wie eine ausreichende interdisziplinäre Qualifikation aller Beteiligten sicher gestellt werden kann, besonders, weil es, anders als etwa bei der Aburteilung eines Ladendiebes, um langfristige, oft das ganze weitere Leben entscheidend beinflussende Perspektiven geht.