Nach einer Trennung/Scheidung erfahren viele (meist die nichtsorgeberechtigten) Elternteile eine wesentliche Behinderung des Umgangs mit den Kindern durch den anderen Elternteil. Sie erfolgt fast immer nach dem gleichen Muster, weshalb Prof. W. Klenner in seinem grundlegenden Aufsatz von "Ritualen der Umgangsvereitelung" spricht [FamRZ 42 (2a) S. 1529, 1995]. Klenner erwähnt auch bereits kurz das Parental Alienation Syndrom (PAS), ein vom New Yorker Kinderpsychiater und Sorgerechtsgutachter Prof. Richard Gardner ca. 1984 eingeführter Begriff zur Beschreibung der Eltern-Kind Entfremdung (vgl. den einführenden Abschnitt aus Kap.III seines Buches, 1992).
Ein wesentliches Merkmal von PAS ist, daß auf Grund der Psychodynamik in der Trennungs/Scheidungssituation die Reaktion des Kindes meist weit über die reine "Programmierung" (Gehirnwäsche) durch den entfremdenden Elternteil hinausgeht, vom dem es meist ja auch noch in vielfacher Weise abhängig ist. Es solidarisiert sich ganz mit diesem Elternteil und sieht dessen Standpunkt, also die bewußten oder unbewußten negativen Aussagen über den abwesenden Elternteil, als seine eigene Erkenntnis an. Wer kennt z.B. nicht die Aussagen ,,Das Kind muß zur Ruhe kommen" und dann ,,Das Kind will nicht" etc. In Wirklichkeit kann es nicht. Gerade dieser Punkt sollte bei der Feststellung (in Anhörungen) des nach der deutschen Kindschaftsrechtsreform (KindRG) wichtigen Kindeswillens besonders beachtet werden, ganz abgesehen von den gut fundierten psychologischen Erkenntnissen, daß Kinder beide Eltern brauchen, und nach dem neuen KindRG auch ausdrücklich ein Recht auf Umgang mit beiden Eltern haben.
Leider gibt es in Deutschland, außer der Erwähnung im klassischen Aufsatz von Klenner, immer noch keine Literatur zu PAS oder Gerichtsentscheidungen, die PAS ausdrücklich berücksichtigen. Besonders in den USA sind die entsprechenden Erkenntnisse aber schon längst Allgemeingut, das in Sorgerechtsgutachten und gerichtliche Maßnahmen zur Sorge/Umgangsregelung einfließt. Die Absolvierung von Kursen über gemeinsame Elternverantwortung und speziell über PAS ist oft gesetzliche Voraussetzung dafür, daß eine Scheidung ausgesprochen wird. Auch das Justizsystem wird zunehmend mit PAS vertraut gemacht. Darüber hinaus sind in den meisten Staaten Schlichtung, Beratung und Mediation selbstverständlich (und meist Pflicht). Es gibt auch spezielle Gesetze zur Durchsetzung des Umgangs, z.B. das Umgangsdurchsetzungsgesetz von Florida von 1996 (Deutsche Zusammenfassung VfK Info 3/98) und entsprechende Einrichtungen, die zuerst als Modellprojekte eingeführt worden waren, z.B. in Kalifornien und Utah.
Wir planen eine Reihe von Beiträgen zu diesem so wichtigen Thema der Eltern-Kind-Beziehung nach Trennung und Scheidung und speziell zu PAS und beginnen hier zunächst mit der Übersetzung zweier kurzer amerikanischer Aufsätze, die viele wesentliche Punkte zusammenfassen:
Sorgerecht:
PAS kann ein zunehmend wichtiger Faktor in
Sorgerechtsentscheidungen werden.
Übersetzung von Child
Custody: Parental Alienation May Become Increasingly Significant
Factor In Child Custody Decision, RM&W NEWSLETTER, Rutherford,
Mulhall &Wargo, Rechtsanwälte, Boca Raton, Florida.
In den letzten Jahren haben sich die Gerichte in Florida besonders bemüht, den Einfluß einer Scheidung auf die Eltern-Kind-Beziehung zu minimalisieren. Gerichte in den Dade, Broward und Palm Beach counties (Bezirken) verlangen nun, daß Eltern an Kursen über elterliche Verantwortung teilnehmen, als Voraussetzung dafür, daß eine Scheidung ausgesprochen wird. Leider sind diese Kurse manchmal nicht ausreichend dafür, daß Eltern ihre Verantwortung gegenüber ihren Kindern nach der Scheidung richtig verstehen. [Anm. des Übersetzers: Inzwischen (1996) wurden auch in Osceola County Kurse zur Elternverantwortung Pflicht. Das vorgeschriebene Kursprogramm enthält u.a. Unterricht über PAS. Wir haben eine deutsche Zusammenfassung erstellt.]
Nach den herkömmlichen Gesetzen waren Sorgerechtsfragen
leicht zu entscheiden, weil dem Vater für gewöhnlich ohne
weiteres das volle Sorgerecht für die Kinder übertragen wurde.
Die Frauenbewegung verlegte die rechtliche Bevorzugung auf die
Mütter, bei denen die Rechtsprechung davon ausging, daß sie
besser geeignet wären, kleine Kinder aufzuziehen.
Heute spiegeln die Gesetze von Florida nicht mehr eine einseitige
Ausrichtung auf ein Geschlecht wider, sondern traditionelle
Prinzipien von Sorgerecht und Umgangsrecht wurden durch das
Prinzip der gemeinsamen Elternverantwortung ersetzt.
Unter der Doktrin der gemeinsamen Elternverantwortung nehmen beide Eltern an allen wichtigen ihre Kinder betreffenden Geschehnissen und Entscheidungen teil. Da 50:50 oder rotierendes Sorgerecht vom Gesetz immer noch nicht favorisiert wird, hat normalerweise ein Elternteil die Hauptaufenthaltsverantwortung für die Kinder. Der nicht mit den Kindern wohnende Elternteil ist zu häufigen und fortgesetzten Kontakten (d.h. Telefonkontakt und Besuchen) mit den Kindern berechtigt. Diese Regelung wird heute bei fast allen Scheidungsurteilen in Florida praktiziert, außer das Gericht stellt fest, daß gemeinsame Elternverantwortung dem Kindeswohl widersprechen würde.
Bei der Bestimmung der Aufenthaltsverantwortung beurteilen die Gerichte, welcher Elternteil am ehesten eine enge und fortgesetzte Beziehung zwischen den Kindern und dem anderen Elternteil unterstützen wird. In der Tat steht diese Betrachtung an erster Stelle der gesetzlichen Kriterien, die ein Richter bei seiner Entscheidung berücksichtigen muß. Der hauptaufenthaltsverantwortliche Elternteil muß mehr tun als nur Besuche zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil zu ermöglichen. Er oder sie muß alle Anstrengungen unternehmen, um eine positive Wechselwirkung zu fördern. Das heißt, daß der hauptanwesendene Elternteil positiv einwirken muß, damit der andere Elternteil von den Kindern respektiert und geliebt wird, und damit häufiger und andauernder Kontakt aufrechterhalten wird.
Das Elterliche Entfremdungssyndrom ist manchmal das Nebenprodukt des Versagens des anwesenden Elternteils bei der richtigen Ausübung der elterlichen Verantwortung. Allgemein kommt es zu dieser psychologischen Störung, wenn ein Elternteil bewußt oder unbewußt ein Verhalten an den Tag legt, welches dazu dient, das Kind vom anderen Elternteil zu entfremden. Die ständige Beeinflussung durch diesen Elternteil "lehrt" das Kind, den andern Elternteil zu hassen oder nicht zu respektieren. Häufige Beispiele elterlicher Entfremdung finden sich, wenn der "geliebte" Elternteil dauernd über die mangelnde finanzielle Unterstützung durch den "gehaßten" Elternteil klagt, daher das Kind der tatsächlichen Angst aussetzt, es müsse ohne Essen, Kleider oder Unterkunft auskommen. Strenge Kritisierung des "gehaßten" Elternteils, oder Behauptungen, daß er oder sie das Kind nicht liebt oder das Kind verlassen hat, sind ebenfalls schädlich. Als Folge einer lange andauernden Einwirkung solchen Verhaltens kann der Haß oder das Mißtrauen des Kindes obsessiv werden und oft in Panik oder Angst ausarten, wenn das Kind bei dem "gehaßten" Elternteil ist. Hauptanwesende Elternteile benutzen oft dieses Verhalten, um ihre Verweigerung von Kontakten mit dem anderen Elternteil zu rechtfertigen. Oft bekommt der abwesende Elternteil dann das Gefühl, daß er oder sie kaum eine andere Wahl haben, als diese Manipulation des entfremdeten Kindes hinzunehmen.
In der Erkenntnis, daß eine solche Situation dem Kindeswohl widerspricht, haben viele Richter damit begonnen, Anordnungen zur Reduzierung des Risikos einer elterlichen Entfremdung zu treffen. So hat der Supreme Court von Florida eine Entscheidung bestätigt, welche von einer Mutter verlangt, ihre Kinder dazu zu erziehen ihren Vater zu lieben und zu respektieren [Anm. des Übersetzers: Schutz vs Schutz, District Court of Appeal of Florida, 3rd District 1988]. Die Mutter hatte diese Entscheidung auf Grund des First Amendments [ersten Abänderung der U.S. Verfassung] angefochten mit der Behauptung, sie würde ihr Recht auf freie Rede verletzen. Das Gericht hat diese Gründe verworfen, indem es befand, daß die Anordnung diese Rechte nicht verletzt, aber das Interesse des Staates an der Unterstützung einer guten Beziehung zwischen Kindern und Vätern fördert.
Elterliche Entfremdungsfragen haben einen größeren Einfluß auf Sorgerechtsentscheidungen in Scheidungs- und Abänderungsprozessen. Alle Eltern sollten beachten, daß das Nichterfüllen der Grundsätze der gemeinsamen Elternverantwortung, ihre elterlichen Rechte nachteilig beeinflussen kann. Floridas Richter am Familiengericht sind jetzt selten bereit Sorgerechtsanordungen zu treffen oder fortdauern zu lassen, die bei der Förderung einer engen Beziehung zwischen den Kindern und beiden Eltern versagen. Und für die Eltern wurde es zunehmend schwerer zu argumentieren, daß das nicht im besten Interesse der betroffenen Kinder ist.
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Elterliche Entfremdung und Beratung über gemeinsame
Elternschaft.
Auszugsweise Übersetzung einer Diskussion mit der Therapeutin
Carol Marks über gemeinsame Elternschaft nach einer Scheidung. (Parental
Alienation and Co-Parent Counseling, a discussion with
Carol Marks, MFCC)
Carol Marks war die erste Therapeutin in Santa Clara County [Regierungsbezirk in Kalifornien], die Elterliche Entfremdung [eigentlich Eltern-Kind Entfremdung] (PAS) erkannte und sie eröffnete die Diskussion mit einer Betrachtung der Geschichte dieses Syndroms.
PAS kann man erkennen, wenn ein Kind sich plötzlich gegenüber einem (für gewöhnlich dem abwesenden) Elternteil feindlich verhält, mit dem es eine langdauernde gute Beziehung hatte. Dieses Phänomen trat in Erscheinung einige Jahre nachdem man in Kalifornien und anderen Staaten in den frühen 80er Jahren damit begann vom gemeinsamen Sorgerecht auszugehen, und es war eine unbeabsichtigte Folge dieser Politik. Diese Politik verlangte gemeinsame Sorge in allen Fällen, in denen Kindesmißhandlung nicht auftrat. Das war eine wesentliche Veränderung gegenüber der früheren Situation, wo die Mutter die Kontrolle über die Kinder hatte und der abwesende Vater jeden Monat seinen Scheck sandte. Mütter, die das soziale Stigma, den Verlust der Kontrolle und Einkommensverluste als Folge gemeinsamer Sorge fürchteten, nützten oft ein Schlupfloch im Gesetz aus, indem sie Anschuldigungen von Kindesmißbrauch machten. Diese Anschuldigungen mußten, um glaubhaft zu sein, von zornigen Kindern begleitet sein, die keinen Platz für Väter in ihrem Leben sahen. Daher elterliche Entfremdung.
Frau Marks erklärte, daß der Prozeß der Entfremdung eines Kindes vom abwesenden Elternteils nicht offensichtlich sein muß. Es genügt, in den meisten Fällen einfach dadurch einzuwirken, daß das Kind von einem Treffpunkt ferngehalten wird, und den abwesenden Elternteil durch zwangslose Bemerkungen und Gesichtsausdrücke herabzusetzen. Die Absicht des entfremdenden Elternteils ist, einen Zustand kognitiver Dissonanz im Kind zu erzeugen, indem es Glaubenssätze - des entfremdenden Elternteils- verinnerlicht, die mit der tatsächlichen Erfahrung mit dem abwesenden Elternteil nicht übereinstimmen (Hinweise u.a. auf die Gehirnwäsche amerikanischer Kriegsgefangener durch die Kommunisten im Koreakrieg).
Wenn das Kind den Standpunkt des entfremdenden Elternteils angenommen hat- daß der Vater schlecht ist weil er nicht genügend Kindesunterhalt zahlt, weil er seine neue Freundin mehr liebt als seine alte Familie, weil Kinder sowieso nicht wirklich Väter brauchen - dann wird das Kind dazu tendieren, den Kontakt mit Papa zu vermeiden, um das Glaubenssystem aufrechtzuerhalten. Herausforderungen an jemandes Glaubens- und Wertesystem sind unangenehm, in einem viel größeren Grad als für gewöhnlich angenommen wird. Die Reaktion der Scheidungsindustrie auf PAS ist dafür ein Hinweis. Die Pioniere dieses Konzepts- Columbia University Professor Richard Gardner auf der nationalen Ebene und Carol Marks in Santa Clara County auf der lokalen Ebene - wurden ursprünglich als Wahnsinnige ("lunatics") abgetan, als sie klinische Beobachtungen von PAS den Gerichten präsentierten. Das Konzept war so neu, daß man genau so gut hätte behaupten können, der Himmel wäre grün. (Hervorhebung durch den Übersetzer.)
Im Laufe der Zeit jedoch, als mehr und mehr Kindesmißbrauchsanschuldigungen sich als falsch herausstellten und mehr und mehr Kinder sich von PAS erholten, nachdem ihre Mamas und Papas eine Therapie durchliefen, war das Establishment gezwungen zu akzeptieren, daß geschiedene Eltern versuchen, entweder bewußt oder unbewußt, Kinder gegen den anderen Elternteil aufzubringen, und manchmal dabei erfolgreich sind.
Leider bedeutet die Bereitschaft, das Parental Alienation Syndrom (PAS) anzuerkennen, nicht, daß es damit verschwindet. Die Vorteile, emotionale oder andere, die Kinder auf seiner Seite zu haben, sind groß. Und während das Ende mutmaßlicher gemeinsamer Sorge (und der Immunität von Sozialarbeitern in Kindesmißbrauchsfällen) eine Verringerung von Falschanschuldigungen von Kindesmißbrauch gebracht haben, nehmen die Anschuldigungen häuslicher Gewalt zu. Diese Anschuldigungen haben eine Schar rechtlicher Maßnahmen in Bewegung gesetzt, die einen fruchtbaren Boden für Entfremdung liefern. Aber das ist ein Thema für eine weitere Diskussion.
Frau Marks sagte, die wirksamste Behandlung für das entfremdete Kind ist die gemeinsame Beratung der Eltern. Die Wirksamkeit dieser Therapie spricht Bände über die Natur der Krankheit. Wenn der entfremdende Elternteil nicht bereit ist, eine individuelle Therapie zu machen, kann Beratung zur gemeinsamen Elternschaft wirksam sein, um die Eltern auf die Konsequenzen ihres Verhaltens aufmerksam zu machen. Eltern lieben ihre Kinder, und die Erkenntnis, daß ein Elternteil dem Kind schadet, indem er in seine Beziehung zum anderen Elternteil eingreift, ist oft ausreichend, um das schlechte Verhalten zum Abklingen zu bringen.
Kurzbeschreibungen