Ein deutsches und ein australisches Verfahren zum Vergleich.
Im Fall Elsholz gegen Deutschland´erkannte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf Verletzung von Artikel 6 [Recht auf ein faires Verfahren] und Artikel 8 [Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens] der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und verurteilte die Bundesrepublik zu Schadensersatz (13.7.2000).
Der Gerichtshof befand mehrheitlich (17:10), dass das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren verletzt wurde, weil das Amtsgericht (und das ist kein Einzelfall in der deutschen Gerichtspraxis) die auch vom Jugendamt empfohlene Einholung eines psychologischen Fachgutachtens verweigerte, trotz der offensichtlichen negativen Beeinflussung des Kindes gegen den Vater und der daraus resultierenden Konfliktsituation für das Kind, laut Beschwerdeführer, ein deutlicher Fall des Parental Alienation Syndroms. Statt dessen berief sich das Amtsgericht in seiner Verweigerung eines Umgangsrechts auf die ablehnende Haltung des etwa sechsjährigen (!!) Kindes und seiner Mutter. Das Berufungsgericht (Landgericht) verzichtete trotz des komplexen Sachverhalts sogar ganz auf jede Anhörung.
The Court, having regard to its findings with respect to Article 8 (see paragraphs 52-53 above), considers that in the present case, because of the lack of psychological expert evidence and the circumstance that the Regional Court did not conduct a further hearing although, in the Court’s view, the applicant’s appeal raised questions of fact and law which could not adequately be resolved on the basis of the written material at the disposal of the Regional Court, the proceedings, taken as a whole, did not satisfy the requirements of a fair and public hearing within the meaning of Article 6 § 1. There has thus been a breach of this provision.
Deutsches Recht stellt nach §12 FGG nur in sehr unbestimmter Form eine Amtsermittlungspflicht fest, was offensichtlich immer wieder dazu führt, dass ohne jede Begründung den Parteien wichtig erscheinende Aussagen oder Dokumente einfach völlig unberücksichtigt bleiben oder Ergebnisse zumindest nicht protokolliert werden. Zu einem fairen Verfahren gehört übrigens nach Art 6 §1 der Menschenrechtskonvention explizit auch eine angemessene Verfahrensdauer, die bei Verfahren mit minderjährigen Kindern von besonderer Wichtigkeit ist (Heilmann, 1998, S. 38). Auch dagegen muss der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und die Amtsermittlungspflicht abgewogen werden, dergestalt dass nur unter engen Vorraussetzungen eine vorherige Anhörung unterbleiben kann, wenn sonst die Wirkung einer Eilentscheidung gefährdet wäre. Unabdingbar ist es aber dann, laut Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass den Betroffenen wenigstens nachträglich rechtliches Gehör gewährt wird (vgl. Heilmann, 1998, S. 180). Eine solche Notwendigkeit einer eingeschränkten Anhörung bestand aber zumindest im Falle Elsholz, und das bei einem Verfahren, das sich ohnehin schon über mehrere Jahre hinzog, mitnichten.
Wir haben selbst bei der Diskussion von Kindesanhörungen gesehen, dass man in Staaten mit einer viel längeren ununterbrochenen demokratischen Tradition (dieser Hinweis sollte erlaubt sein!), wie in den USA, das Recht auf ein faires Verfahren weit ernster nimmt, obwohl bei Kindesanhörungen dieses Recht immer gegen den Schutz des Kindes vor zu großer psychischer Belastung abzuwägen ist. Amerikanische Statuten zum Kindschaftsrecht halten unter anderem ausdrücklich fest, dass alle Anhörungen zu protokollieren sind. Zusätzlich können auch bei Kindesanhörungen meist Anwälte der Eltern (verständlicherweise nicht diese selbst) zumindest als Zuhörer anwesend sein. Ferner ist auch festgelegt, dass auch jede der Parteien psychologische Gutachten beantragen kann, was das Gericht nur ablehnen kann, wenn damit offensichtlich nur das Verfahren verzögert werden soll. Eine Ablehnung muss aber ausdrücklich begründet werden. Ebenso selbstverständlich ist es, dass die Sachverständigen dann als Zeugen geladen werden und einem Kreuzverhör unterzogen werden können.
Ein besonders beeindruckendes Beispiel für die Durchsetzung des Rechtes auf ein faires Verfahren liefert ein sehr ausführliches Urteil aus Australien: BETWEEN: N JOHNSON (APPELLANT/HUSBAND) AND M L JOHNSON (CROSS-APPELLANT/WIFE) Appeal No. SA1 of 1997 No. AD6182 of 1993 Number of pages:31. Practice and procedure. IN THE FULL COURT OF THE FAMILY COURT OF AUSTRALIA. Es ist allerdings zugleich auch ein abschreckendes Beispiel für einen sich über Jahre erstreckenden, sehr bitteren Streit der sich zunächst über das Umgangsrecht entzündete, aber dann auch die Entscheidung über Unterhalt und vermögensrechtliche Fragen erheblich erschwerte.
Den Vater irritierte insbesondere, dass auch nach Bekunden des Kindes der Umgang nur in Gegenwart der Mutter stattfinden sollte. Die Mutter beantragte das alleinige Sorgerecht, einen Anwalt des Kindes und u.a. auch eine psychiatrische Untersuchung des Vaters (eines Arztes). Dem Antrag auf Beistellung eines Anwalts für das inzwischen 9 jährige Kind wurde gleich entsprochen. Nach dessen Instruktionen und mehrmaligen separaten Interviews mit den Eltern und dem Kind wurde ein Gutachten durch einen Kinderpsychiater erstellt. Hernach gewährte das Gericht 14 tägigen Umgang in Begleitung der Mutter, was den Vater nicht nur intens irritierte, sondern was er auch als sinnlos betrachtete. Die psychiatrische Untersuchung des Vaters wurde für 6 Wochen ausgesetzt, unter der Bedingung, dass dieser vier weitere Termine mit dem Kinderpsychiater wahrnimmt. Hernach wurde allerdings das Umgangsrecht völlig ausgesetzt. Nach den Instruktionen des Anwalt des Kindes wurde ein weiteres Gutachten erstellt. Mutter und Kind waren inzwischen, ohne den Vater zuvor von ihrer Absicht zu benachrichtigen, nach Queensland umgezogen. Der Vater beantragte dann das Recht auf Korrespondenz mit dem Kind und auf Informationen über seine Schullaufbahn, was auch (über den Anwalt des Kindes) gewährt wurde, allerdings unter Streichung der Schuladdresse.
Das eigentliche Verfahren begann etwa 3 Jahre nach der endgültigenTrennung und den zahlreichen darauf folgenden einstweiligen Anordnungen, die wir nicht alle aufgezählt haben. Es gab 18 (in Worten achtzehn!!) weitere Verhandlungstage mit zahlreichen (16 !!), auf Wunsch der Parteien geladenen Zeugen, sowie dem Gutachter und entsprechend vielen Kreuzverhören. Das Umgangsrecht und Informationsrecht des Vaters wurde im obigen Umfang aufrechterhalten und der Mutter das alleinige Sorgerecht zugesprochen.
Beide Parteien strengten ein Beschwerdeverfahren an. Der Ehemann nannte im wesentlichen vier Gründe aus denen hervorginge, dass ihm kein faires Verfahren gewährt worden war:
Es folgt eine sehr ausführliche, lesenswerte Darstellung zu jedem einzelnen dieser Punkte, mit Zusammenfassungen der Zeugenaussagen und Auszügen aus den Wortprotokollen der Verhandlung, sowie über das Parental Alienation Syndrome. Danach folgt eine umfangreiche Darstellung der Prinzipien eine fairen Verfahrens, einschliesslich der Unterschiede zwischen einem Zivil- und einem Strafverfahren.
Zusammenfassend stellt das Berufungsgericht fest:
Es ist natürlich möglich, dass das Ergebnis kein anderes gewesen wäre, selbst wenn dem Ehemann in diesen Punkten volle Fairness gewährt worden wäre. Da jedoch diese Unfairness des Verfahren zentrale Punkte (Fakten) betraf, können wir diese Schlussfolgerung nicht ziehen, sondern unserer Meinung nach könnte das Resultat bei fairer Prozessführung durchaus ein anderes gewesen sein. Daher muss die Berufung zugelassen werden, die Entscheidungen zu Sorgerecht und Umgang aufgehoben und eine neuerliche Anhörung vor einem anderen Richter angeordnet werden. Insbesondere wurden die Anordnungen 1-14 des Urteils aufgehoben und den Ehemann explizit das Recht eingeräumt seinen Antrag nachträglich auf Übertragung des Sorgerechts (Wohnung des Kindes bei ihm) abzuändern.
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Kommentar:
Zweifelsohne strebt niemand bei uns ein derart aufwendiges, sich bis zu diesem Zeitpunkt über fast 4 Jahre erstreckendes Verfahren an.(Eine solche Verfahrensdauer ist allerdings auch bei uns nicht allzu ungewöhnlich). Abgesehen von der Gewährung eines fairen Verfahrens wäre am allerwichtigsten zunächst, besonders im Sinne des Kindeswohls, dass sich überhaupt der Streit nicht derart entzünden kann. Dazu gehört nicht nur unserer Meinung nach, sondern wie es anderswo schon längst Wirklichkeit ist, als Voraussetzung einer gerichtlichen Regelung (Scheidung) zunächst eine wirklich verpflichtenden Beratung (Kursus) über Trennungs -/ Scheidungsfolgen für minderjährige Kinder, zumindest dann, wenn absehbar ist, dass die Eltern von selbst nicht in der Lage sind ihre (aufgelöste) Paarebene von der bleibenden Elternrolle hinreichend zu trennen. Der Prozentsatz der Eltern, denen das auch nach einer kurzen "heißen" Phase nicht gelingt, ist nach übereinstimmenden Aussagen nicht allzu groß. Wenn jedoch der Streit über Sorge-/ Umgangsrecht voll entbrannt ist, sind die Appelle an Einsicht, wie sie bei uns gelegentlich, statt einer wirklichen Durchsetzung des Umgangsrechts, erfolgen, völlig wirkungslos. Wenn dann noch, wie leider auch sehr häufig bei uns, noch sehr viel Zeit vergeht, kann die Entfremdung des Kindes als Folge des elterlichen Konfliktes weiter, nicht selten bis zum "point of no return" (nicht mehr umkehrbaren Stadium) fortschreiten, was dem den Umgang vereitelnden Elternteil sogar zur weiteren "Bestätigung" verhilft, im Interesse des Kindes, nur seinen Willen respektierend, zu handeln.
Um bei Australien zu bleiben, dort hat man das nicht nur erkannt, sondern hat wenige Jahre nach einer Kindschaftsrechtsreform (1996) zu einer weiteren Reform angesetzt, die unter anderem sehr viel umfangreichere Massnahmen zur Durchsetzung gerichtlicher Anordnungen, insbesondere bezüglich des Umgangs vorsieht. Sie sind selbstverständlich abgestuft, mit zunehmender Härte bei wiederholtem Nichtbefolgen. Selbstverständlich will niemand gleich ein Jahr Gefängnisaufenthalt oder hohe Geldstrafen aussprechen, oder Kinder per Gerichtsvollzieher dem anderen Elternteil zuführen, vor allem wenn dies schwere Folgen gerade für die Kinder haben könnte, für deren Wohl man ja in erster Linie eintreten möchte. (Solche schwerwiegende Massnahmen sind übrigens, im Prinzip wenigstens, auch in Deutschland, nach §33 FGG möglich, zusätzlich auch eine Reduzierung des Ehegattenunterhaltes nach §1579 BGB ). Es ist daher vorgesehen, dass man es zunächst mit einer verpflichtenden Beratung versucht, etc. Wir wollen über die australischen Reformen (und andere) noch berichten. Der Gesetzentwurf selbst (Family Law Amendment Bill 1999) ist nur sehr schwer lesbar, da ohne jede Erläuterung, nur Satz für Satz die Änderungen des bestehenden Gesetzestextes angegeben sind.
Es gibt auch ernsthafte Reformbestrebungen in Grossbritanien und Kanada, neben den Massnahmen die z. B. in den USA, aber auch in Frankreich schon lange bestehen. Die durchaus positive Erfahrung, insbesondere auch mit verpflichtender Beratung oder Vermittlung (Mediation) hätte man bei der ohnehin sehr lange währenden Kindschaftsrechtreform schon berücksichtigen können. Wenn es, wie bei den Demonstrationen in Berlin zu einer Vorsprache bei einer Mitarbeiterin des Bundesjustizministeriums bzw. einer Bundestagsabgeordneten kommt, so ist dieses Bemühen (von Frau Dr. Jäckel) durchaus sehr lobenswert, aber eine nur teilweise Zusage, die ohnehin recht bescheidenen (und anderswo längst realisierten) Vorschläge ,,prüfen" zu wollen, nicht gerade übermässig ermutigend.
Ein weiterer Kommentar zum Elsholz Urteil ist hier speziell im Zusammenhang mit der Rolle des Parental Alientation Syndromes in der gerade beschriebenen australischen Entscheidung angebracht:
In letzter Zeit kursieren nämlich Interpretationen dieses Urteils, die offensichtlich auf unvollständigen Zitaten beruhen. Der europäische Gerichtshof für Menschenreche hat sich in seiner Urteilfindung keineswegs (wenigstens nicht explizit) die Ausführungen zum Parental Alienation Syndrom zu eigen gemacht, so sehr das manche bedauern mögen. Mit vielleicht noch mit mehr Berechtigungist aber auch der Beschluss BVerfG, 1 BvR 212/98 vom 2.4.2001, Absatz-Nr. (1 - 7) bedauerlich, nach dem zwar ein offensichtlich beeinflusster "Kindeswille" unbeachtlich ist, aber eine "echte" durch Beeinflussung entstehende Bindung schützenswert sei (für deren Entstehen ja bei uns u.a. wegen mangelnder Durchsetzung des Umgangsrechts und überlanger Verfahrensdauer reichlich Gelegenheit besteht.)
Ein genaueres Studium des vollständigen Urteils zeigt nämlich, dass die sicher bemerkenswerten Ausführungen zum Parental Alienation Syndrome ausschließlich als Stellungnahme des Beschwerdeführers, bzw. seines Rechtsvertreters, Dr. Koeppel, wiedergegeben sind, unter A. Arguments before the Court. 1. The Applicant. Der Gerichtshof bezog sich lediglich auf die auch darin angesprochene schwierige Sachlage, die nach dessen Überzeugung die Einschaltung eines Sachverständigen und eine weitere persönliche Anhörung durch das Berufungsgericht unabdingbar machte.
Deutsche (Teil)Übersetzungen und Kommentare zum Elsholz Urteil sind in Der Amtsvormund 2000, Heft 8; FamRZ und NJW 2001, Heft 32, S. 2315-2319 erschienen.
Wichtiger Nachtrag: Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in dem dieser nicht nur den Ausdruck Parental Alienation Syndrom ( französisch: syndrome d’aliénation parentale, SAP) explizit gebraucht hat, sondern sich auch die Argumente zu PAS zu eigen gemacht hat und diese sehr deutlich und tragend in die Entscheidung einflossen, ist am 20.7.2006 im Falle Koudelka gegen Tschechien (no. 1633/05) ergangen.