Information von Väter für Kinder e.V.:

Rezension:

The unexpected Legacy of Divorce. The 25 Year Landmark Study

Judith Wallerstein, Julia M. Lewis, and Sandra Blakeslee

Hyperion, New York, 2000

ISBN 0-7868-8616-1, 351 Seiten.

Anmerkung: Das Buch ist inzwischen auch auf Deutsch erschienen, s.u,

Trennung und Scheidung bedeuten immer eine schwere Krise im Leben der Erwachsenen und im ganz besonderen Maße für die betroffenen Kinder. Genau zum Höhepunkt dieser Krise müssen Entscheidungen getroffen werden, die der bestmöglichen Bewältigung der akuten Situation dienen sollten, die aber auch unweigerlich vor allem die Zukunft der Kinder nachhaltig beeinflussen. Gerade über letzteres wissen wir aber sehr wenig, obwohl es grundlegend für fundierte Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls wäre, zu denen Eltern und Gerichte aufgerufen sind. Selbst wenn alle bemüht sind diesen Grundsatz zu erfüllen, so steht doch der akute Konflikt zwischen den Eltern stets im Vordergrund. Die Kinder, auch wenn sie angehört werden und ihren Willen bekunden, sind naturgemäß zum Zeitpunkt der Entscheidungen zu jung um die langfristigen Konsequenzen für ihre Zukunft absehen zu können. Längsschnittstudien, die nicht nur den Höhepunkt der Krise festhalten, sondern eine Rückschau ermöglichen, können hier eine Wissenslücke füllen, wenn sie in erster Linie die früheren Kinder und jetzt jungen Erwachsenen zur Sprache kommen lassen. Genau das ist die Absicht des vorliegenden Buches und sie ist in hervorragender Weise verwirklicht.

Judith Wallerstein und ihre Mitarbeiterinnen haben von 1971 an 113 Kinder und ihre Familien die zu diesen Zeitpunkt im Prozess der Scheidung standen in regelmässigen Abständen befragt, zumindest alle fünf Jahre. Mit ihnen wurde aber keine Therapie unternommen. Die Ergebnisse dieser Befragung zum Zeitpunkt von 18 Monaten, 5, 10, und 15 Jahren wurden bereits in zwei Büchern niedergelegt* . Nach 25 Jahren konnten noch 80 Prozent dieser "Kinder" für mehrere Stunden persönlich interviewt werden. Sie sind jetzt zwischen 28 und 43 Jahre alt. Zusätzlich wurden ausgedehnte Interviews auch mit einer Vergleichsgruppe von jungen Erwachsenen durchgeführt, oft Schulfreunde / freundinnnen der "Scheidungskinder" die in der selben Gegend aufwuchsen und dieselben Schulen besuchten, aber aus intakt gebliebenen Familien stammten. Es wurden auch nur "Scheidungskinder" in die Gruppe aufgenommen, die vor der Scheidung keine besonderen Probleme hatten, also altersgemäß entwickelt waren und in der Schule gut vorankamen. Die Kinder stammen aus dem Einzugsgebiet des jetzt als Wallerstein Center bekannten Therapiezentrums in Marine County, Kalifornien. Sie gehörten der amerikanischen "middle-class" an, mit Eltern die zum größten Teil einen Hochschulabschluss oder zumindest Abitur hatten und zumeist über ein komfortables Einkommen verfügten. Die demographischen Details und weiteres zur Methodik der Untersuchung und Auswertung können dem Anhang des Buches entnommen werden. Das Buch selbst wählt die biographische Methode der ausführlichen Darstellung einzelner Schicksale von Betroffenen, statt einer Darstellung von Statistiken und Prüfung von Hypothesen auf Grund quantifizierter Daten aus strukturierten Interviews oder Fragebögen. Sicher hat letzteres auch seinen Platz und mag potentiell "wissenschaftlicher" sein, aber der Eindruck von diesen sehr persönlich gehaltenen Aussagen ist doch ein ganz anderer als der von nüchternen Statistiken. Man wird unmittelbar selbst persönlich angesprochen und das vermutlich sehr unterschiedlich, abhängig davon ob man selbst "Scheidungskind" ist, oder aus einer intakten Familie stammt. Auch die Hauptautorin dieses Buches, Judith Wallerstein, wählte einen sehr persönlichen Stil. Sie schreibt durchwegs in der Ich Form (der Einheitlichkeit halber selbst dann, wenn sie die Interviews nicht persönlich führte) und gibt auch ihren Gefühlen Ausdruck. Manche Thesen im Buch sind deshalb, statt einer statistisch gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis, eher als persönliche Meinung zu sehen, die man angesichts der jahrzehntelangen Erfahrung der Autorin mit tausenden von Scheidungskindern aber respektieren muss.  

"Scheidungskinder" für die das Buch, entsprechend der Widmung ausdrücklich auch geschrieben ist, werden sich vielfach selbst in diesen Fallgeschichten erkennen, wie bisherige Reaktionen deutlich zeigten. Zu erkennen, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist, kann ein hilfreicher erster Schritt zu ihrer Lösung sein. Für andere, und da muss der Rezensent fast zwingend auch zu einem persönlichen Stil greifen, vermitteln diese Fallgeschichten wahrlich erstaunliche Einsichten in eine Welt die ganz anders ist, als die man selbst für selbstverständlich hielt. Für mich, wie wohl die für meisten Kinder aus intakten Familien, war es z. B. immer selbstverständlich, dass meine Eltern mich stets mit Rat und Tat loyal unterstützen würden, gleichgültig mit welchen Problem ich mich an sie wandte. Dafür standen auch immer beide Eltern, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, zur Verfügung. Besonders wichtige Themen, wie etwa Studium und Berufswahl wurden aber stets gemeinsam besprochen. Der Respekt den sie mir dabei entgegenbrachten, indem sie mir schon in sehr jungen Jahren erklärten, es gehe um meine Zukunft und ich müsse daher letztlich selbst darüber entscheiden, förderte nicht nur Selbständigkeit und Selbstwertgefühl, sondern ließ mich auch als Erwachsener gerne ihren Meinung einholen, selbst wenn meine Entscheidung dann letztlich anders ausfallen sollte. Selbst Kritik und Spott sind innerhalb der Familie in diesem Sinne ein Zeichen der Zuneigung und Wertschätzung. Nach der normalen pubertären Ablösungsphase, als Erwachsener mit zunehmendem Alter wurde mir auch immer bewußter, wie sehr auch mein Wertesystem, mein Umgang mit Mitmenschen etc. von meinen Eltern geprägt worden war. Das Buch bestätigt diese sehr persönliche Erfahrung an Hand der ebenfalls sehr persönlichen Fallgeschichten von Kindern aus intakten Familien. Das trifft größtenteils selbst noch auf Familien zu bei denen die Ehe der Eltern nicht so harmonisch verlief, die vielleicht größtenteils nur der Kinder wegen noch aufrecht erhalten wurde und bei denen Konflikte zwischen den Eltern auch für die Kinder unübersehbar waren (ausgenommen natürlich Fälle roher Gewalt, Trunksucht etc. in einem Ausmaß das eine Scheidung praktisch unausweichlich macht), die aber bezüglich der Kinder kooperierten. Auch solche Fallbeispiele wurden für das Buch ausgewählt. Auch Kinder in solchen Familien erfahren noch Geborgenheit und Kontinuität und können sich auf die Beziehung zu ihren Eltern verlassen. Kinder in solchen Familien könnten sogar aus direkter Anschauung lernen, wie man mit Konflikten umgehen kann. Frau Wallerstein, die selbst schon über 50 Jahre verheiratet ist und 3 Kinder hat, aber betont, dass sie schon allein auf Grund ihrer sehr umfangreichen Berufserfahrung nicht gegen Scheidung eingestellt sein kann, gibt deshalb als Schlussfolgerung aus der Studie solchen Eltern den Rat sich ernsthaft zu überlegen ob sich nicht der Kinder wegen ihre Ehe fortsetzen sollten (S. 307). Sie zitiert eine Frau aus einer solchen, nicht so glücklichen Ehe: ,,Es gibt zwei Beziehungen in dieser Ehe. Er bewundert mich als gute Mutter. Als Ehefrau langweile ich ihn in jeder nur möglichen Weise. Aber unsere Kinder sind wunderbar und das ist was zählt". 

"Scheidungskinder" haben es dagegen viel schwerer. Ihnen fehlt das Vorbild einer guten, verlässlichen Partnerschaft und eines stabilen Wertesystems das Eltern in einer intakten Familie ihren Kindern vermitteln. Sie sehnen sich aber als junge Erwachsene genau so nach Geborgenheit, Liebe und Partnerschaft, aber müssen für sich allein gestellt ein Selbstkonzept entwickeln das, allgemeiner, ihr gesamtes zwischenmenschliches Verhalten, ihr Selbstwertgefühl, die moralischen Maximen, und ihre gesamte Haltung überhaupt bestimmt. In diesen Belangen sind sie gerade von den Menschen zu denen sie die engste Beziehung hatten und denen sie am meisten vertrauten, ihren Eltern, meist urplötzlich auf das schwerste enttäuscht worden. Das hat ernste Auswirkungen gerade dann, wenn diese Kinder selbst in das Erwachsenenleben eintreten, eine Partnerschaft eingehen oder eine Familie gründen wollen. Sie können das nicht mit derselben Selbstverständlichkeit und nach dem Vorbild ihrer Eltern angehen, wie das Kinder aus intakten Familien tun, sondern sind dauernd oder wenigstens auf lange Zeit von der Angst beherrscht, dass ihre eigenen Beziehungen genau so scheitern könnten, auch dann, wenn sie sich bemühen es ganz anders als ihre Eltern zu machen. Kinder identifizieren sich nämlich nicht nur mit Mutter und Vater als separaten Individuen, sondern auch mit der Beziehung zwischen ihnen. Diese Angst führt dann tatsächlich oft dazu, dass "Scheidungskinder" in ihren Beziehungen eine voreilige, schlechte Wahl treffen, dann leicht aufgeben, wenn Probleme auftreten (Scheidung ist also nicht selten "vererblich" ), oder engere Beziehungen überhaupt vermeiden. Das sei das eigentliche, unerwartete Erbe von Scheidungen (the unexpected legacy of divorce), das dieses Buch an Hand von Aussagen Betroffener deutlich machen will. Diese Langzeitstudie zeigt also, dass "Scheidungskinder" in diesem Sinne auch als Erwachsene immer noch "Scheidungskinder" bleiben. 

Viele der bisherigen Studien und die ganze Aufmerksamkeit der Familiengerichte und sonstigen Scheidungsbegleiter konzentrieren sich dagegen hauptsächlich auf die Situation unmittelbar nach der Trennung der Eltern, im Glauben auch, dass es sich um eine vorübergehende Krise handle, die mit geeigneten Vorkehrungen bald überwunden werden kann. Zweifellos ist die Trennung der Eltern für die Kinder eine Katastrophe mit der eine vertraute Welt urplötzlich zusammenbricht, ohne dass sie die Hintergründe wirklich verstehen können, und die mit vielen seelischen und materiellen Entbehrungen verbunden ist. Die vorliegende Studie zeigt jedoch, dass sie als junge Erwachsene die Einzelheiten weitgehend vergessen haben, dagegen aber Langzeitfolgen wie eine Zeitbombe aktiv werden. Natürlich ist der Umgang von "Scheidungskindern" mit ihrem "Erbe" aus der gescheiterten Beziehung ihrer Eltern und ihr Langzeitschicksal sehr unterschiedlich. Statistiken, die die wesentliche erhöhte Häufigkeit von Verhaltensstörungen, Leistungsabfall in der Schule, Drogen- und Alkoholmissbrauch, früher sexueller Aktivität, gescheiterter Beziehungen und Kriminalität von Kindern aus zerrütteten Familien aufzeigen, obwohl erschreckend, geben da kein ausreichendes, differenziertes Bild. Es ist auch wichtig zu sehen, wie es die bei den heutigen Scheidungsraten immer größere Zahl von Kindern trotz der schwierigen Umstände dennoch, wenigstens langfristig, geschafft haben, ausgeglichene, erfolgreiche und glückliche und vielleicht auch gegenüber ihren Mitmenschen besonders sensible Erwachsene zu werden. Dazu führt das Buch verschiedene Beispiele an, die durchaus auch ermutigen können, obwohl meilenweit entfernt von ,,Alleinerziehen als Befreiung. Mutter- Kind- Familien als positive Sozialisationsform und als gesellschaftliche Chance", wie es in einem wohl nur ideologisch begründetem, von einer ,,feministischen Forscherin" (EMMA) gewählten Buchtitel heißt. (Zweifellos gibt es aber Ehen, bei denen sich zumindest Außenstehende verwundert fragen, warum sie nicht schon weit früher fluchtartig beendet wurden.)

Kinder nehmen nie passiv am Scheidungsgeschehen teil. Nicht selten versuchen sie ihre Eltern wieder zusammen zu bringen. Häufig tritt auch der Fall ein, dass Kinder die Rolle und Aufgaben von Erwachsenen übernehmen oder übernehmen müssen, also z. B. die jüngeren Kinder beaufsichtigen, während der alleinerziehende Elternteil seiner (nicht selten neu aufgenommenen) Berufstätigkeit nachgeht, oder auch neue Partnerschaften pflegt (besonders belastend für die Kinder, wenn diese noch dazu häufig wechseln). Ein Kind kann sogar zum "Betreuer" (caretaker) oder Ersatzpartner eines unter der Trennungserfahrung besonders leidenden Elternteils werden. Besonders häufig trifft die Betreuerrolle auf die Beziehung zwischen alleinerziehender Mutter und Tochter zu. In Teil I des Buches wird an Hand der Biographie von Karen gezeigt, wie diese Erfahrungen in unerwarteter Weise alle ihre Beziehungen als Erwachsene und ihre Ansichten zu Mutterschaft geformt haben. Zum Vergleich wird die Geschichte von Gary herangezogen, der mit Eltern aufwuchs, die zwar nicht glücklich miteinander waren, aber ihre Ehe dennoch aufrecht erhielten. Damit wird die Frage adressiert, ob und wann Eltern die nicht glücklich miteinander sind für ihre Kinder zusammen bleiben sollten.  

Teil II berichtet über Larry, der häusliche Gewalt erleben musste. Als die Mutter den Vater verließ, wurde der siebenjährige Larry sehr zornig und aggressiv gegenüber seiner Mutter und wollte mit der heimlichen Hilfe seines Vaters die Ehe wieder restaurieren. Sein Leben wird mit dem von Carol verglichen, deren Eltern ihr Leben lang gegeneinander gewalttätig waren, aber nie die Absicht hatten, sich zu trennen. Damit sollen die Einstellungen und die Auswirkungen auf das Erwachsenenleben von Kindern und Jugendlichen die mit häuslicher Gewalt aufwuchsen beleuchtet werden.

Teil III ist über Paula, die als kleines Kind unter intensiver Einsamkeit litt, als die Mutter nach der Scheidung Vollzeit arbeiten musste und gleichzeitig zur Schule ging. Paula war, nach einer wilden Phase als Jugendliche und einer impulsiven ersten Heirat, mit 33 Jahren selbst alleinerziehende Mutter, die versuchte ihr Leben endlich in den Griff  zu bekommen. Kein Kind aus intakten Familien hat einen ähnlich abrupten Verlust einer liebevollen, schützenden Umgebung erlebt, daher hier kein Vergleichskind.

Teil IV ist über Billy, ein Kind mit einem angeborenen Herzfehler. Für solche pflegebedürftige Kinder ist die Scheidung der Eltern besonders schwierig.

Teil V ist über Lisa, die auch nach der Scheidung in einer komfortablen Umgebung und friedlich aufwachsen konnte, mit der liebevollen Unterstützung sowohl beider Eltern als auch einer Stiefmutter. Trotzdem hatte Lisa als junge Erwachsene große Probleme damit, Männern zu vertrauen. Im Kontrast zu Betty, die in einer sehr glücklichen, intakten Familie aufwuchs, war Lisa nicht sicher, ob sie jemals einen Lebenspartner finden würde, Kinder aufziehen, oder der Institution der Ehe trauen könnte.

Die Biographien zeigen, dass "Scheidungskinder" und Kinder aus intakten Familien in getrennten, aber parallelen Welten leben, obwohl sie in der selben Umgebung aufwuchsen. Was sind nun die Schlußfolgerungen, die die Autorinnen aus ihrer Studie ziehen?

Das Buch ist, wie schon gesagt, "Scheidungskindern" gewidmet, die sich darin mit ihren Problemen für sich selbst, und anders als ihre Eltern, eine stabile Beziehung und Lebenshaltung aufzubauen, in vielem selbst erkennen werden. Es sollte auch Partnern / Partnerinnen helfen die besonderen Bedürfnisse und Ängste solcher "Scheidungskinder", oder auch Kindern aus sonstigen dysfunktionalen Familien, besser verstehen zu lernen. Eltern die sich trennen, werden lernen müssen, dass sich Enttäuschung und Wut darüber bei den Kindern sogar ein Leben lang fortsetzen kann. Das trifft insbesondere den Nichtwohnelternteil, also besonders häufig Väter, obwohl das Buch auch andere Beispiele aufzeigt (Teil II). Die Autorinnen empfehlen deshalb, soweit dies möglich ist, und das ohne all zu starkes Aufwühlen alter Verletzungen, dass sich "Scheidungskinder" als junge Erwachsene mit ihren Eltern zu sehr offenen, ausführlichen Gesprächen zusammenfinden und so die Chance wahrnehmen, Schatten zu vertreiben, die seit vielen Jahren auf ihnen lasten. Sie sollten auch mit einer festen Verbindung / Ehe warten, bis sie mehr über sich selbst und ihre Erwartungen von einer Partnerschaft wissen. Eine gute Beziehung kann nicht eingegangen werden, wenn man jeden Augenblick ihr Scheitern befürchtet. Einzel- oder Gruppentherapie kann dabei helfen, wie auch die Beispiele anderer bei der Konfliktlösung. Eltern empfehlen sie, sich ernsthaft zu überlegen, ob sie nicht auch eine etwas unglückliche Ehe der Kinder wegen aufrechterhalten sollten. Wenn sie das aber nicht mit Würde und ohne Zorn vermögen und deshalb sich zu einer Trennung / Scheidung entschließen, sollten sie das trotzdem nicht impulsiv tun, weil damit meist keine rasche Lösung der Probleme erreicht wird, sondern ganz neue auftreten.

Sehr ausführlich gehen die Autorinnen auch auf die sozialen Folgen unserer heutigen Scheidungskultur ein. Ein Anteil von nur noch etwa 25 % von Familien mit Kindern an den Haushalten sei wahrlich besorgniserregend, ebenso wie der dementsprechend hohe Anteil  von "Scheidungskindern" in Therapie- und sozialen Einrichtungen (dort bis fast zu 3/4). Sie empfehlen ein umfassendes Bildungsprogramm über Kindererziehung, Ehe und allgemein, Beziehungslehre. Das sollte vor allem bei Jugendlichen ansetzen. (Auf Webseiten amerikanischer Universitäten finden sich bereits nicht  nur entsprechende Vorlesungsangebote, sondern auch Informationen über Selbsthilfegruppen von "Scheidungskindern"). Sie gehen auch auf die Anforderungen von Arbeitsplatz vs. Familie ein und weisen dabei darauf hin, dass die meisten europäischen Staaten, im Gegensatz zu den USA bereits bezahlten Elternurlaub gewähren. Auch ein anderes Problem, das sie mehrmals hervorheben, ist  bei uns etwas anders gelagert: Obwohl die "Scheidungskinder" durchwegs aus zumindest vor der Scheidung gutsituierten Familien stammten, mit Eltern die einen guten College- oder Universitätsabschluss hatten, erreichten viele ihrer Kinder dieses Ziel nicht, auch weil ihnen die finanzielle Unterstützung nicht zuteil wurde, die bei den in den USA (besonders an guten Privateinrichtungen), anders als bei uns, sehr hohen Studiengebühren nötig gewesen wäre. 

Im Gegensatz zu diesen relativ wohlhabenden Familien, ist bei der deutschen Langzeitstudie (über 12 Jahre) von Anneke Napp-Peters ,,Familien nach der Scheidung" (1995), der allgemeine wirtschaftliche Abstieg (mit vielfacher Beanspruchung von Sozialhilfe) ein besonders herausragendes Problem. Auffallend beim Wiederlesen dieser deutschen Studie, ist neben dem völlig anderen, weit weniger persönlich-biographischen Stil, auch eine ganz andere Kategorisierung der geschilderten Fälle. Die deutsche Studie wurde vor der Kindschaftrechtsreform abgeschlossen, zu einer Zeit also, in der  eine Sorgerechtsentscheidung ergehen musste, und das praktisch immer für Alleinsorge. In Kalifornien, wie in vielen anderen Staaten der USA dagegen ist "joint physical custody" schon seit langem eher der Normalfall, also nicht nur gemeinsames Sorgerecht in unserem (rechtlichen) Sinne, sondern mit etwa zeitlich gleich verteiltem, abwechselnden Aufenthalt des Kindes bei Mutter und Vater. (In Kalifornien wird auch Kindesunterhalt entsprechend diesen Zeitanteilen aufgeteilt.) Geklagt wird daher in der amerikanischen Studie eigentlich nur, dass diese Regelung, vor allem bei älteren Kindern bei deren Freizeitaktivitäten, gemeinsam mit Schulfreunden, sehr hinderlich sein kann und dementsprechend altersgemäß angepasst werden sollte. Die Autorinnen beklagen dabei auch, dass viele, oft sogar erst siebenjährige Kinder an Wochenenden regelmäßig lange Flugreisen unternehmen müssen. 

Von den bei uns sattsam bekannten Problemen mit Umgangsvereitelung und Entfremdung ist in dem Buch von Wallerstein et al überhaupt nicht die Rede, obwohl Judith Wallerstein schon sehr früh auf das jetzt unter Parental Alienation Syndrome (PAS ) bekannte Phänomen hinwies, das sie "Allianzbildung" nannte. Ganz anders dagegen die Studie von Napp-Peters: Die Fälle werden in zwei Kategorien eingeteilt, je nachdem ob der andere, nicht sorgeberechtigte Elternteil ausgegrenzt wurde (die sehr deutliche Mehrheit), oder nicht. Darunter wurde noch einmal unterteilt, je nachdem ob der sorgeberechtigte Elternteil eine neue Beziehung / Ehe einging oder nicht, also zwischen "Eineltern"- und "Mehreltern" Scheidungsfamilie. Die deutsche Studie befaßt sich, außer den bekannten psychischen und Verhaltensproblemen von "Scheidungskindern", mit diesem Beziehungsgeflecht, seiner zeitlichen Entwicklung (meist zu weiterem Kontaktverlust mit dem nichtsorgeberechtigten Elternteil) und dessen Auswirkungen auf die Kinder.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der besondere Wert des neuen  Buches von Wallerstein et al darin besteht, dass darin, wie leider viel zu selten, die langfristig Meistbetroffenen einer Trennung / Scheidung, die Kinder, sehr ausgiebig und direkt zu Wort kommen. Sicher ist das Buch keine wissenschaftliche Darstellung im üblichen Sinne. Die Fallgeschichten könnten genau so gut in einer Zeitung oder einem anderen guten journalistischen Produkt erscheinen- die am Buch beteiligte dritte Autorin ist schließlich eine mit zahlreichen Auszeichnungen bedachte Journalistin. Die Leser gewinnen aber so einen weit unmittelbareren Einblick in die Probleme die "Scheidungskinder" als junge Erwachsene bei der Formung ihres persönlichen Selbstkonzepts haben, als dies Statistiken je vermögen, dies insbesondere auch, weil es sich, statt einer statistischem Momentaufnahme (Querschnitt) um eine Längschnittstudie über eine einmalig lange Zeit (25 Jahre) handelt.  

Sicher kann man aus einer so umfangreichen Sammlung von Interviews, wie diese Langzeitstudie ergab, auch ganz andere Dinge auswählen und damit seine politischen und sonstigen Ansichten zu Trennung, Scheidung, Umgang und Unterhalt zu untermauern versuchen. Trennung / Scheidung ist eben kein einfacher Prozess der schlagartig alle Probleme löst, selbst nicht nach guter Beratung und einer weisen richterlichen Entscheidung. Dieser Prozess bringt auch unerfreuliche Charakterzüge zur Geltung und schafft ganz neue Probleme für alle Beteiligten, besonders für die betroffenen Kinder (und das sogar langfristig, wie die vorliegende Studie eindringlich zeigt), aber überwiegend selbst auch für den Elternteil von dem die Initiative zur Trennung ausging. 

Diese Bemerkungen richten sich vor allem an deutsche Leser/innen, die bisher nur mit solchen selektiven Teilaspekten und Interpretationen der Studie bekannt gemacht wurden. Sie mögen sogar auf der deutschen Übersetzung (FamRZ 2, 2001) einer früheren Publikation erster Ergebnisse (Wallerstein & Lewis, „The long-term impact of divorce on children - A first report from a 25-year study". Family and Conciliation Courts Review, Bd. 36, Nr. 3, Juli 1998, Seite 368-383) beruhen. Zu bedenken ist aber zumindest:

  1. Sind die politischen, rechtlichen und sozialen Verhältnisse in den USA, besonders in einer so wohlhabenden Gegend, im Einzugsgebiet von San Francisco, ganz andere als hier (vgl. dazu die oben erwähnte deutsche Studie von Napp-Peters). Wenn man Aussagen in der Studie auf die deutsche Umgangsproblematik anwenden will, muss man wissen, dass ganz anders als immer noch bei uns, in Kalifornien und vielen anderen Staaten der USA gemeinsame elterliche Sorge, und das mit zunehmend großem Anteil sogar mit etwa hälftiger Teilung des Aufenthaltes der Kinder (joint physical custody) weitgehend der Normalfall ist. Dazu kommt, besonders in der ausgewählten Gegend, eine mit Deutschland überhaupt nicht vergleichbare Mobilität. Es ist völlig normal, dass Familien oder einzelne Mitglieder häufig ihren Aufenthalt wechseln und dann über den ganzen Kontinent verstreut sind. Dass damit auch besondere Probleme für Kinder und Eltern bei der Wahrnehmung des Umgangs und Aufrechterhaltung des Kontakts mit einem Nichtwohnelternteil einhergehen, die im Buch auch erwähnt werden, ist selbstverständlich, obwohl, wiederum anders als bei uns, der Umzug eines Elternteils vom Familiengericht aus Sicht des Kindeswohls geprüft und bewilligt werden muss. 
    Dazu kommt, dass die getrennten Eltern, und das im stärkeren Maße die Väter in dieser Studie, sehr oft rasch neue Beziehungen eingingen und sogar nicht selten mehrmals geschieden wurden. Wenn dann neue Familien mit weiteren Kindern entstehen und die neuen Partner/innen auch noch zu erkennen geben, dass sie die Frau/den Mann heiraten wollten und nicht dazu auch noch die Kinder aus früheren Ehen, so hat dies selbstverständlich auch erhebliche Auswirkungen auf den Umgang und die finanzielle Unterstützung. Wenn im Buch beklagt wird, dass dann "Scheidungskinder" oft nicht dieselbe Universitätsausbildung genießen können, wie ihre Eltern, muss man auch wissen, dass in den USA auch gut verdienende "middle-class" Eltern meist sehr langfristig planen und sparen müssen, um ihre Kinder auf ein sehr gutes College oder auf eine private Eliteuniversität schicken zu können. Viele Eltern (Väter) haben nach einer oder gar mehreren Scheidungen sicher einfach nicht mehr die Mittel dafür, obwohl es auch andere geben mag, die ihre Kinder aus früheren Beziehungen mehr oder weniger "vergessen".   
  2. Das eigentliche Fazit der Studie und des Buches, das bei so großer Resonanz natürlich auch Kritik erntete (insbesondere von Leuten die Scheidung weniger dramatisch sehen als J. Wallerstein) ist, dass an Hand von direkten, sehr persönlichen Aussagen  von "Scheidungskindern" sehr deutlich wird, dass sie erhebliche Probleme mit ihrem Selbstkonzept gerade im jungen Erwachsenenalter, zum Zeitpunkt wo sie selbst eine Beziehung eingehen wollen oder eine Familie gründen wollen (also meist sehr lange nach der Trennung der Eltern), haben. Das ist auch das für sie überraschende Fazit, das Frau Wallerstein selbst aus dieser Studie zieht, wie ein Interview mit ihr verdeutlicht. 
  3. Dieses endgültige Fazit, einige Jahre nach Abschluss der 25 jährigen Studie, ist weitgehend unabhängig von den in Punkt 1 skizzierten "Umweltsbedingungen" und sogar den Problemen zum Zeitpunkt der Trennung selbst. Für deutsche Leser/innen mag es besonders interessant sein dieses Buch und die Kommentare dazu mit dem bisher hier ausschließlich verbreiteten vorläufigen Bericht (1998) zu vergleichen, der wie es im Vorspann (verfaßt von G. Zenz & L. Salgo) zur deutschen Übersetzung heißt, auf ,,Teilbereiche" des Buches ,,fokussiert". Diese Publikation ist im jetzigen Buch, trotz sehr vieler sonstigen Literaturangaben, nicht einmal mehr erwähnt!.

Wallerstein and Kelly, Surviving the Breakup, Basic Books,1979.

Wallerstein and Blakeslee, Second Chances. Men, Women and Children a Decade After Divorce, Houghton Mifflin Company, Boston 1989.

Anneke Napp-Peters, Familien nach der Scheidung. Verlag Antje Kunstmann, München 1995.

The unexpected Legacy of Divorce. Inhalt:

Acknowledgments                                                                            IX

Prologue                                                                                        XIII

Preface                                                                                         XIX

Introduction                                                                              XXVII

PART ONE / PARALLEL UNIVERSES: KAREN AND GARY

ONE  When a Child Becomes the Caregiver                                      3

TWO
Sunlit Memories                                                                     14

THREE Growing Up Is Harder                                                       26

FOUR What If They'd Stayed Together--and What If They Can't?   39

FIVE When There's No One to Set an Example                               52

SIX Setting an Example                                                                   71


PART TWO / THE LEGACY OF DIVORCE: LARRY AND CAROL

SEVEN  The Wages of Violence                                                     87

EIGHT Our Failure to Intervene                                                   106

NINE Order Out of Chaos                                                           121

TEN Family Ties                                                                           131

ELEVEN Undoing the Past                                                           146

PART THREE / THE PARENTLESS CHILD: PAULA

TWELVE Growing Up Lonely                                                      159

THIRTEEN Court-Ordered Visiting, the Child's View                   174

FOURTEEN Sex and Drugs                                                          186

FIFTEEN Evolving Relationships                                                    195

SIXTEEN The Custody Saga Continues                                         204

PART FOUR  / THE VULNERABLE CHILD: BILLY

SEVENTEEN The Vulnerable Child                                               225                               

EIGHTEEN The Stepfamily                                                           236

NINETEEN Picking Up the Pieces, One by One                            254

PART FIVE / MY BEST CASE: LISA

TWENTY Is Not Fighting Enough?                                                269                            

TWENTY-ONE Children of Divorce                                             282

TWENTY-TWO Conclusions                                                        294

Appendix                                                                                       317

Notes                                                                                            327

Index                                                                                             339

Zu weiteren, früheren Berichten über das Buch.

Deutsche Fassung: Judith S. Wallerstein, Julia M. Lewis, Sandra Blakeslee: Scheidungsfolgen - Die Kinder tragen die Last. Eine Langzeitstudie über 25 Jahre; a. d. Engl. v. Ulrike Stopfel; Verlag Votum, Münster 2002; 350 S., 26,80 EUR.
Dazu eine Rezension in DIE ZEIT: Und immer sind sie hungrig nach Liebe. Wie verkraften Kinder die Trennung ihrer Eltern? Gern wollen wir glauben, alles werde wieder gut. Doch die Psychologin Judith S. Wallerstein widerspricht dem entschieden/Von Eugenie Bott.

 

 

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