VfK Rezension
 Amy  J. L. Baker: Adult Children of Parental Alienation Syndrome. Breaking the Ties that Bind.
W. W. Norton & Company, New York, London 2007.  A Norton Professional Book  ISBN-13: 978-0-393-70519-5; ISBN-10: 0-393-70519-6 (32.00 US $) 303 Seiten.VfK Logo

  Das Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung (Parental Alienation Syndrome-PAS) ist den meisten von uns in erster Linie als Begleiterscheinung hoch konflikthafter Trennung oder Scheidung aus der praktisch immer diametral entgegengesetzen Sicht der darin verstrickten Eltern und allenfalls aus der Sicht der verschiedenen professionellen Trennungs- / Scheidungsbegleiter, einschließlich der Familiengerichte, bekannt. Darüber, wie die Hauptbetroffenen, die Kinder diesen Konflikt erleben und über ihre Sicht erfahren wir nur selten etwas. Weil das Parental Alienation Syndrome aber gerade daduch wesentlich charakterisiert ist, dass die Kinder aktiv in diesem Prozess beteiligt sind, und zwar solidarisch mit dem entfremdenden Elternteil in der Ablehnung des anderen Elternteils, muss zwischen zwischen dieser aktiven Phase und einer späteren Phase, meist im jungem Erwachsenenalter, wenn sie denn jemals eintritt, in der diese Kinder rückblickend erkennen, dass sie massiv gegen den anderen Elternteil beeinflusst wurden, unterschieden werden. Das Buch beruht auf Aussagen aus dieser zweiten Phase von 40 nun erwachsenen "PAS-Kindern". Bemerkenswert ist, dass darunter auch einige sind, bei denen die Eltern sich zwar nie oder viel später trennten, aber dennoch ein Elternteil das Kind als Bündnispartner gegen den anderen Elternteil missbrauchte. Fälle in denen Großeltern ihre Enkel von Eltern zu entfremden suchen, werden ebenfalls erwähnt.   

Wir wissen bereits aus einer umfangreichen Forschung, dass selbst eine sogenannte ,,gute Trennung / Scheidung" , d.h. ohne nennenswerte andauernde Konflikte zwischen den Eltern und regelmäßigem Kontakt der Kinder zu beiden Eltern vielfache psychische Langzeitfolgen für die Kinder hat, die weit in das Erwachsenenalter reichen. Das ist, als zunächst nicht erwartetes Ergebnis, die Kernaussage der Langzeitstudie (über 25 Jahre) von Wallerstein, Lewis & Blakeslee, The unexpected Legacy of Divorce. The 25 Year Landmark Study (2000), deutsch: Scheidungsfolgen - Die Kinder tragen die Last. (2002). Damit völlig übereinstimmend sind die Ergebnisse aus der umfangreichen Studie von Elizabeth Marquardt, Between Two Worlds. The Inner Lives of Children of Divorce  (2005), für die junge Erwachsene, überwiegend mit Collegeabschluss und beruflich erfolgreich, ausgewählt wurden, die in ihrer Kindheit die Trennung ihrer Eltern erfahren hatten, danach aber ohne nennenswerte äußere Konflikte den Kontakt zu beiden Eltern aufrecht erhalten konnten. Selbst diese Gruppe von "Scheidungskindern" war aber von erheblichen (inneren) psychischen Konflikten betroffen, so dass es, wie es die Autorin sehr eindringlich formuliert, in diesem Sinne keine "gute Scheidung" gibt, sondern das nur ein Mythos ist. Diese Kernaussage sorgte in den USA für enormes Aufsehen.

Diese Studien legen zumindest sehr nahe, dass die psychischen Auswirkungen einer Trennung / Scheidung mit fortgesetztem hohen Elternkonflikt und lang andauernder Entfremung des Kindes von einem Elternteil noch um einiges gravierender sind. Der Untersuchung solcher Fälle kommt daher besondere Bedeutung zu, um den betroffenen Kindern, wie auch dem Zielelternteil, der verzweifelt Kontakt zum Kind sucht, oder diese Bemühungen schließlich als hoffnungslos aufgeben will, bestmöglich helfen zu können. Mit den Schlussfolgerungen die sich für dieses Ziel aus der Befragung der nun erwachsenen "PAS Kinder" ergeben befassst sich Teil III des Buches sehr ausführlich.

 Ein für den Zielelternteil besonders wichtiges Ergebnis der Befragung ist, dass alle befragten "PAS Kinder" betonten, wie wichtig ihnen der noch verbleibende Restkontakt mit dem Zielelternteil, oder auch nur Lebenszeichen, wie kleine Geschenke oder Grußkarten waren, oder wie sehr sie sich gewünscht hätten, dass der ausgegrenzte Elternteil mehr Bemühungen in dieser Richtung unternommen hätte, und das selbst dann, wenn sie aus "Loyalität"mit dem entfremdenden Elternteil darauf nicht positiv reagieren konnten. Die Entfremdungsstrategie besteht nämlich vielfach teilweise darin, dem Kind zu vermitteln, dass der andere Elternteil kein Interesse an ihm hat, es sogar ablehnt, sich nicht um es kümmern will, es auch nicht einmal der Mühe Wert findet anzurufen, zu schreiben oder auch nur ein kleines Geschenk zu schicken, und das selbst dann, wenn diese Kontaktversuche konsequent abgefangen wurden. Das hat selbstredend ganz erhebliche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl des Kindes. Selbstverständlich muss der ausgegrenzte Elternteil bei seinen Kontaktversuchen einfühlsam vorgehen, das Kind nicht bedrängen, um zu vermeiden, dass es in in eine verschärfte Zwangslage gegenüber dem entfremdenden (und meist betreuenden) Elternteil kommt. Aber er sollte unbedingt versuchen beim Kinde irgendwie präsent zu bleiben, in welcher Form auch immer. 

Dieses Befragungsergebnis ist aber auch einmal mehr ein eindringliches Argument gegen die leider immer noch vielfach von den Gerichten angeordnete Aussetzung von Umgangskontakten (,,Kind muss zur Ruhe kommen").  Dadurch wird die Entfremdung nur verfestigt.
Die Gerichte sollten vielmehr ihr Augenmerk auf den entfremdenden Elternteil richten und ihn möglichst frühzeitig daran hindern den Entfremdungsprozess fortzusetzen. Einsicht beim entfremdenden Elternteil, der durch geeignete Massnahmen, wie Sanktionsandrohungen und tatsächliche Durchsetzung einer Umgangsregelung ggfs. deutlich "nachgeholfen" werden muss, ist nämlich bestenfalls nur in einem Frühstadium zu erwarten. Bloße Appelle an diese Einsicht, sofern sie überhaupt erfolgen, und dies manchmal sogar erst nach bis zu einem Jahrzehnt gerichtlich ausgetragener Konflikte, verpuffen wirkungslos, wenn der Drang zur Entfremdung sich einmal verfestigt hat.

Aus dieser Sicht sind auch Kursprogramme, die die Wichtigkeit eines fortgesetzen, konfliktfreien Kontaktes des Kindes zu beiden Eltern verdeutlichen und Möglichkeiten dazu aufzeigen, als Präventionsmaßnahme durchaus sinnvoll und in jeder Hinsicht viel kostengünstiger als ein über lange Zeit ausgetragener Konflikt, mit erheblichen und bleibenden Schaden für das Kind. Deshalb sind solche Kursprogramme in den U.S.A., teilweise auch mit explizitem Bezug auf PAS (z. B. das Kursprogramm und die Filme des Superior Court von Maricopa County, Arizona, -auch für Richter-, auf die wir mehrmals hinwiesen, vgl. auch Summers &Summers 2006 und unsere ergänzenden Bermerkungen dazu), schon seit den 80er Jahren verpflichtend, als Scheidungsvoraussetzung, wenn minderjährige Kinder betroffen sind.

Verfestigt wird die Entfremdung nämlich umso mehr je länger dieser Prozess andauert, und das dann oft bis zu einem ,,point.of no return" (ohne Umkehrpunkt), zumindest beim entfremdenden Elternteil. Auffallend an dieser Studie, genau wie auch in den leider wenigen weiteren Befragungen nun erwachsener PAS Kinder, ist, dass in keinem einzigen Fall von einer auch nur sehr späten Einsicht des entfremdenden Elternteils in die Folgen der Entfremdungskampagne oder dessen Beendigung berichtet wurde, mit dem Ergebnis, dass sich die nun erwachsenen PAS Kinder von diesem Elternteil abwandten, oder die Beziehung zumindest sehr distanziert wurde. Allerdings blieb nicht selten auch das Verhältnis zum "wiedergefundenen" anderen Elternteil distanziert, weil sich einfach so viele verlorene Jahre nicht nachholen lassen. Verständlich wird diese fehlende Einsichtsfähigkeit, auch bei Eltern, wie wir immer wieder beobachten, die auf Grund ihres Bildungsstandes oder sogar beruflichen Ausbildung die Folgen einer Entfremdungskampagne für das Kind eigentlich erkennen müssten, wenn man von Persönlichkeitsstörungen ausgeht, wie sie auch schon Gardner in diesem Zusammenhang erwähnte. Andritzky hat sich sehr ausführlich mit dieser Thematik befasst, und zwar in erster Linie mit der Borderline Persönlichkeitsstörung beim entfremdenden Elternteil.
[Andritzky, Verhaltensmuster und Persönlichkeitsstruktur entfremdender Eltern, 2003; auch Siegel, 1998 und Wakefield &Underwager,1990, sowie bei Gordon, 1998 insbesondere auch zum Transgenerationeneffekt, d.h. den Auswirkungen einer eigenen problematischen Kindheit des entfremdenden Elternteiles.]

 In der vorliegenden Arbeit (Kapitel 1) rücken dagegen die narzistische und die antisoziale Persönlichkeitsstörung in den Vordergrund. Narzistische Eltern brauchen die Bewunderung und ausschließliche Loyalität ihrer Kinder, ähnlich Sektenführern, und haben mangelnde Empathiefähigkeit. Die andere Gruppe sind Eltern, die die ausschließliche Loyalität des Kindes durch körperliche und psychische Gewalt (Verunglimpfung, Einschüchterung etc) zu erzwingen suchen, und das nicht selten unter Alkohol/Drogeneinfluss. Für beide Verhaltensmuster werden sehr anschauliche Beschreibungen aus der Befragung abgeleitet, mit einigen weiteren Fallunterscheidungen.
Der Analogie mit Sekten und Sektenführern wird ingesamt breiter Raum im Buch gegeben (vgl. auch die Veröffentlichung der Autorin aus 2005), auch was die Möglichkeiten der Loslösung des Kindes aus der entfremdenden Beziehung, die manchmal auch mit dem psychiatrischen Fachausdruck "folie à deux" (Verücktheit zu zweit) beschrieben wird, und die Hilfestellung dazu betrifft. Vgl. dazu auch unseren früheren Beitrag ,,Eltern-Kind-Entfremdung überwinden", in dem auf weitere Fallgeschichten zu PAS und auf Möglichkeiten der Hilfestellung hingewiesen wird.

Verhaltensmuster bei der Entfremdung wurden von Baker auch in weiteren Publikationen aus der Sicht betroffener Kinder beschrieben und dann von Baker & Darnall (2006) mit der Sicht betroffener d.h. ausgegrenzter Eltern verglichen, wobei sich eine große, aber nicht vollständige Übereinstimmung in der großen Vielzahl der erkannten Entfremdungsstrategien ergab.   
 
Auf den Umgang mit dem entfremdenden Elternteil wird in diesem Buch, das ja auschließlich auf der Befragung von als Kind von Entfremdung betroffener Erwachsener beruht, nicht eingegangen. Schon Gardner hat jedoch in seinem Buch Therapeutic Interventions for Children with Parental Alienation Syndrome (2002) deutlich gemacht, dass hochgradige Entfremder kaum therapiefähig, weil auch nicht therapiewillig sind.

Enttäuschend an diesem Buch mag zunächst sein, dass die Aussagen der "PAS Kinder" überwiegend nur in kurzen Bruchstücken und eingebettet in psychologische Theorien (Bindungstheorie, etc.) und Interpretation zum Ausdruck kommen. Dabei ist sich die Autorin durchaus der Wirkung von unmittelbaren von Betroffenen erzählten Fallgeschichten bewusst, und welche Hilfe sie vor allem für andere Betroffene, aber auch für ein insgesamt besseres Verständnis solcher Fälle bedeuten können. Sie hat dazu einen eigenen Aufsatz verfasst, der auf einige besonders bewegende Fallgeschichten hinweist. (Baker, 2006), und auch Summers & Summers, 2006.
Letztlich entscheidend für die Betroffenen, wie auch für das begleitende Helfersystem ist aber welche Schlussfolgerungen man aus diesen Fallschilderungen zieht. Und hier ist die Bilanz insgesamt doch sehr positiv, weil die Situation der von PAS betroffenen  Kinder sehr deutlich wird und sehr konkret erläutert wird, was der entfremdete Elternteil  und das Helfersystem zu einer Verbesserung dieser Situation beitragen können. Ingesamt ein sehr lesenswertes Buch, das wesentlich zum Verständnis von PAS beiträgt, mit vielen daraus zu gewinnenden Anregungen, wenn auch etwas anstrengender beim Lesen als reine Fallgeschichten.

Inhaltsverzeichnis des Buches (pdf Datei)

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