Zur Zeit sorgt dieses Thema, besonders im Zusammenhang mit dem Fall Görgülü für umfangreiche Diskussion, Pressemeldungen, und bei von
Fremdunterbringung ihrer Kinder betroffenen Eltern auch für heftige Emotionen, bei ausländischen Eltern sogar manchmal mit Bezug auf ein schreckliches Kapitel deutscher Vergangenheit.
Interessant ist es dann auch die Standpunkte der mit Fremdunterbringung befassten Organisationen, Jugendämter, Richter, Psychologen, Juristen etc. kennen zu lernen, einschließlich
solcher die denen betroffener Eltern diametral entgegengesetzt sein mögen. Wir bemühen uns daher entsprechende Informationen zusammen zu stellen.
Wir berichteten über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Falle Görgülü gegen Deutschland vom 26.02.2004 und hatten daraus eine deutsche Übersetzung der §§ 44-51 (pdf Datei, 97kB) des Urteils angefertigt. Sie betreffen das Sorge- und Umgangsrecht, insbesondere die Abwägung der Verpflichtung zur Zusammenführung leiblicher Eltern mit dem Kind, trotz einer möglichen kurzfristigen Stresssituation, gegenüber den langfristigen, oft irreparablen Folgen einer langen Trennung.
Weitere Informationen zum Fortgang dieses Falles können einer Webseite, einschließlich Kopien der Urteile, eines aktualisierten Tagebuches der betroffenen Familie und Presseberichten, entnommen werden (Sie geben, wie bei allen unseren links, natürlich die Meinung und Formulierungen der Verfasser wieder, die nicht notwendigerweise die unseren wären, ja von denen wir uns sogar im Sinne des bekannten Urteils ausdrücklich distanzieren müssen.).
Demnach erregt der Fall weiter erhebliche Aufmerksamkeit, weil zwar das Amtsgericht Wittenberg auf einen erneuten Antrag des Vaters, unter Hinweis auf das Straßburger Urteil, diesem am 19.3.2004 das alleinige Sorgerecht für seinen nichtehelichen Sohn übertragen hat, dieser Beschluss jedoch vom OLG Naumburg auf Antrag der Verfahrenspflegerin und des Jugendamtes (als Amtsvormund) am 9. Juli 2004 wieder aufgehoben wurde. Die gleichzeitige einstweilige Anordnung des Amtgerichtes zu einem Umgang war bereits am 30.6.2004 aufgehoben worden. Abgesehen von einer ausführlichen Darstellung zu formalrechtlichen Verfahrensfragen sind an den Urteilen natürlich die auf das so genannte Kindeswohl bezogenen Ausführungen interessant, und vielleicht erstmalig in dieser Form, insbesondere auch die Ausführungen mit denen erklärt wird, dass zwar die Bundesrepublik als Vertragspartner an die Straßburger Urteile gebunden ist, nicht aber ein unabhängiges deutsches Gericht. Besonders ausführlich wird dies im Sorgerechtsbeschluss des OLG zum Ausdruck gebracht.
Es soll hier kein Versuch unternommen werden auf die umfangreichen formalrechtlichen Ausführungen zum Status der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Straßburger Gerichtshofes (EGMR) innerhalb des deutschen Rechtssystems einzugehen. Sicher ist allen Betroffenen, die nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges (bis zum Bundesverfassungsgericht) nicht die Mühe, den Zeitaufwand und erheblichen Kosten scheuen ihr Verfahren beim EGMR anhängig zu machen, bekannt, dass auch eine für sie positive dortige Entscheidung keineswegs die erfolgreiche Erledigung der Angelegenheit bedeutet (sofern dies, besonders in Familienangelegenheiten wegen des Zeitablaufs überhaupt noch möglich ist). Das ist selbst bei rein innerstaatlichen Verfahren nicht immer der Fall, wenn ein Urteil zwar aufgehoben, aber wieder an die untere Instanz zurück verwiesen wird. Sie erhoffen sich aber für die weiteren Verfahren von einem Urteil eines internationalen Gerichtshofes mit ausgewählten, angesehenen Richtern aus den Staaten des Europarates zumindest eine deutliche moralische Unterstützung und ernsthafte Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Gerichtshofes. Ganz bestimmt sind es nicht die möglichen Schadensersatzleistungen die sie diesen mühsamen Weg beschreiten lassen, diesen Weg sogar attraktiv machen, wie es in dem Aufsatz von Prof. E. Benda (Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 1971-1983), Verkehrtes zum Verkehrsrecht. Anmerkungen zu den EGMR-Urteilen Sommerfeld, Elsholz und Sahin gegen Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 29 Jg. Heft 1-4, 2002, Seite 1-3, heißt. Dieser Schadenersatz wird vermutlich von den Betroffenen auch nicht als Kompensation für die eingeschränkte Bindungswirkung der EGMR Entscheidungen gesehen, wie es obigen Sorgerechtsbeschluss des OLG heißt, in dem aber zugleich die teilweise Verwendung dieses Schadensersatzes für die weiteren Gerichtskosten als zumutbar erklärt wird.
Besondere Brisanz erhält dieser Fall auch dadurch, dass es sich um das Kind eines ausländischen (türkischen) Vaters und einer deutschen Mutter handelt, das seit längerem schon in einer deutschen Pflegefamilie aufwächst, die die Adoption anstrebt. Obwohl das Adoptionsverfahren noch anhängig ist, findet man im Sorgerechtsbeschluss des OLG, laut obigen link, u.a. die Formulierung, ,,Eine Trennung des Kindes von seinen beiden Elternteilen, seinem Bruder und nahezu allen sozialen Lebensbezügen, um die es dem Antragsteller, ungeachtet der gegenteiligen Beteuerung einer behutsamen, aber auch dann dem Kindeswohl nicht zuträglichen, jedenfalls nicht besonders dienlichen Überführung in seine Familie zu tun ist, bedeutete - so die abschließende, ungeachtet der Einwendungen des Antragstellers distinkt, wissenschaftlich formuliert und plausibel aus pädagogisch-psychologischer Sicht entwickelte Schlussfolgerung in der Expertise, die mit den Erkenntnissen und Sachkunde kraft eigener Lebenserfahrung der Senatsmitglieder, ja wenn man so will dem gesunden Menschenverstand, nahtlos übereinstimmt und dem nichts hinzuzufügen ist -für das Kind rational und emotional unfassbare Verluste und eine derart gravierende Erschütterung, die als höchst traumatisch eingestuft werden müsste (Bl. 60, Bd.III d. A.) ..."
Natürlich kann die erhebliche Problematik der Rückführung eines Kindes, das sich sehr lange in einer Pflegefamilie aufgehalten hat, nicht ignoriert werden. Um sie gar nicht so stark ausgeprägt entstehen zu lassen sollte alles unternommen werden um die Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern wieder herzustellen und Verfahren zu beschleunigen. In dem vorliegenden Fall, der etwas anders gelagert ist, weil so weit uns bekannt ist, die Erziehungsfähigkeit des leiblichen Vaters und seiner jetzigen Ehefrau ja nicht wesentlich in Frage gestellt wurde, sollten zumindest den obigen Ausführungen des OLG die entsprechenden Ausführungen des EGMR zur Problematik der Rückführung gegenüber gestellt werden. Auch dem erlesenen Richterkollegium des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte möchten wir wenigstens Sachkunde, Lebenserfahrung und gesunden Menschenverstand zubilligen.
Die erwähnte Expertise und deren mutmaßliche wissenschaftlichen Grundlagen sind uns nicht bekannt. Sicher interessant zu der ,,pädagogisch-psychologischen (und juristischen) Sicht" von Vertretern des Pflegekinderwesen in Deutschland, wenn auch vermutlich diametral entgegengesetzt zum Standpunkt mancher von Fremdunterbringung oder ,,Neu-Beelterung" ihrer Kinder betroffenen leiblichen Eltern, sind (neben zahlreichen weiteren Informationen, die man durch geeignete Suche auffinden kann) sind u.a. die folgenden links zu Webseiten:
PFAD, Bundesverband der PFlege- und ADoptivfamilien e. V
Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie AGSP (GbR)
Buch: Nienstedt/Westermann: Pflegekinder, 5. Aufl. 1998, Votum Verlag, Münster.Ludwig Salgo, Gesetzliche Regelungen des Umgangs und deren kindgerechte Umsetzung in der Praxis des Pflegekinderwesens, ZfJ, 90. Jahrgang Heft 10/2003 Seiten 361–404.
zu den gesetzlichen Grundlagen vgl. auch Broschüre des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (Achtes Sozialgesetzbuch) 1995, Kap.5. S. 27.
Sehr relevant ist dazu auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes:
Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 86/2006 vom 29. September 2006 zum Beschluss vom 23. August 2006 – 1 BvR 476/04 –Abschließend möchten wir zum Fall Görgülü noch bemerken, dass die Entscheidung des EGMR vielleicht doch bewirkt hat, dass, wie wir dem Tagebuch der Familie entnehmen, diesmal die Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen obige OLG Urteile angenommen wurde und das Vormundschaftsgericht das Adoptionsverfahren bis zu dessen Entscheidung ruhen lässt (Beschluss vom 27.7.2004).
Einfügung: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist am 19.10.2004 ergangen.
16.12.2004: Heute in der Süddeutschen Zeitung, zentral auf Seite 1 und hervorgehoben:
Vater will sein Kind sehen - und erlebt eine Odysee
Heribert Prantl zum Fall Görgülü und seiner neuesten Entwicklung, Verfassungsbeschwerde Nummer 3:
...und weil der Vater nicht gestorben ist, sucht er sein Recht noch heute. Es ist wie ein böses Märchen. Es war einmal ein hohes
Gericht in Straßburg, das blickte mit Verdruss auf Urteile, die in Sachsen-Anhalt gefällt wurden........
Er hat am Mittwoch erneut Verfassungsbeschwerde eingelegt. Irgendwann wird er wohl doch noch Recht erhalten. Dann wird sein Kind ihm fremd geworden sein und nichts mehr von ihm wissen wollen. Man
hätte die Akten also auch, wie einst, auf den Dachboden hängen können.
Eigentlich eine phantastische, wunderbar erzählte Justizposse, wenn nur das Geschehen nicht so tragisch für den betroffenen Vater und sein Kind wäre.
14.12.2004: Aktuelles zum Fall Görgülü: Naumburger Tageblatt
Naumburg/MZ/jpt. Am Tag
der Menschenrechte hat am Freitag vor dem Oberlandesgericht (OLG) Naumburg eine Mahnwache "wegen wiederholter Menschenrechtsverletzung" durch das OLG stattgefunden. .......
Anlass für die "stille Protestaktion" von Kazim Görgülü ist eine Entscheidung des 14. Zivilsenats am OLG vom Mittwoch. Darin wird dem in Krostitz bei Leipzig lebenden
Türken inzwischen das dritte Mal der Kontakt zu seinem leiblichen Sohn untersagt. ......
.02.08.2007: Im bekannten Fall und der anscheinend unendlichen Geschichte eines türkischen
Vaters in Deutschland gibt es, laut Bericht von Volkstimme.de, eine neue Runde: Das Landgericht Halle habe die Eröffnung eines Verfahrens gegen einen Richter desselben
Gerichts und zwei Richter des OLG Naumburg auf Grund der Anklage der Generalstaatsanwaltschaft wegen Rechtsbeugung abgelehnt. Über die Beschwerde dagegen soll jetzt das OLG Naumburg
entscheiden. [Kommentare dazu u. E. eigentlich überflüssig, aber im Internet zu finden.]
.
Im Fall Kutzner gegen Deutschland verging nach der EGMR Entscheidung (26.2.2002) noch geraume Zeit bis zur Wiedervereinigung der beiden Kinder mit den leiblichen Eltern. Laut Bild vom 3.12.2003 waren sie 2481 Tage, d.h. fast 7 Jahre, getrennt.
Im Fall Haase gegen Deutschland hat nach den Entscheidungen des EGMR (8.4.2004) und der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (21.6.2002), soweit wir wissen noch keine Rückführung der Kinder stattgefunden.
30.9.2004: STERN Nr. 41 vom 30.9.2004, Seite 64: Kinderklau vom Amt. Der verzweifelte Kampf der Eheleute Cornelia und Josef Haase mit JUGENDHILFE und Gerichten um die Rückkehr ihrer sieben Kinder. Von DORIT KOWITZ. (Hervorhebungen im Originaltitel)
Leider weiterhin keine wesentlichen Konsequenzen aus der vernichtenden Kritik von Bundesverfassungsgericht und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte an den Entscheidungen der lokal zuständigen Gerichte und vor allem an der Arbeit des Jugendamtes. Die Eltern haben erst seit März 2004 Umgang, aber nur mit lediglich 2 der 7 eine Woche vor Weihnachten 2001 ,,in Obhut" genommenen Kinder, und ohne eine von ihnen dazu angestrebte Regelung. Die jüngsten Kinder sind in kinderlosen Pflegefamilien. Wirklich bemerkenswert jedoch die Aussagen der Leiterin des Jugendamtes, lt. STERN: ,,Die Abwägung zwischen Elternrecht und Kindeswohl wird beim Europäischen Gerichtshof [pdf Datei]und im deutschen Kinder-und Jugendhilfegesetz unterschiedlich bewertet." [ Anm. : In Urteilen des EGMR wird stets von der Gesetzeslage des betreffenden Staates ausgegangen.] Und dazu noch ein weiteres, wahrlich erschreckendes Armutszeugnis für die Qualität solcher Abwägungen des Jugendamtes und zugleich für den Staat der dieser Institution dazu praktisch unkontrollierte Macht verleiht: Frau Haase hat Anfang 2004 eine weitere Tochter geboren. Auf die Frage einer WDR-Journalistin, warum man das Baby bei Haases lasse, wenn es doch dort so gefährlich sei", habe die Jugendamtsleiterin geantwortet: ,,Weil der Mediendruck so hoch ist." Immerhin wenigstens eine offene, ehrliche Antwort.
vgl. auch die Sendung Fliege vom 5.7.2004.
14.5.2004 ML Mona Lisa: Im Zweifel gegen die leiblichen Eltern. Wer kontrolliert das Jugendamt? (Teil 2)
.....Dazu der Psychologe und langjährige Gutachter für Familien- und Strafrecht an der Universität Bielefeld, Prof. Dr. Uwe Jopt: "Faktisch haben die Jugendämter keinen Kontrolleur außer ihrem Dienstvorgesetzten." Bei den Dienstvorgesetzten in Land und Kreis, ebenfalls Fehlanzeige. Die Behörden verweisen immer wieder zurück ans Jugendamt