Die allermeisten Leser / Leserinnen dieser Seiten werden die Grundzüge der "Cochemer Praxis" bereits aus verschiedenen Berichten in den Medien und auf Webseiten oder aus Vorträgen kennen. (Eine bekannte Suchmachine liefert 864 Einträge im Internet zu "Cochemer Praxis" und gar annähernd 19700 zur alten Bezeichnung "Cochemer Modell"). Eine umfassende Darstellung findet sich natürlich auf den Webseiten des Cochemer Arbeitskreises selbst. Dieser sich regelmässig treffende Arbeitskreis ermöglicht eine ständige, offene Entwicklung der interdiszipliären Vernetzung, statt einer statischen Konstruktion, die mit dem Begriff "Modell" häufig assoziert wird. Konkrete Einzelfälle werden dabei nicht besprochen, wohl aber grundsätzliche Fragen aus der praktischen Erfahrung.
Was nun die Bedeutung und den Reiz dieses neuen Buches ausmacht ist, dass es Einblicke in die persönliche Sicht des seiner Stellung nach zum "Kapitän" dieses Teams berufenen Familienrichters gewährt. Besonders wer nicht das Glück hatte, diesen im Sinne des Kindeswohls sehr engagierten Richter persönlich in einer Veranstaltung zur "Cochemer Praxis" zu erleben, wird mit diesem Buch voll auf seine Rechnung kommen. Es beschreibt nicht nur die Entstehung und Grundzüge der Cochemer Praxis, sondern geht auch aus der internen Sicht eines sehr erfahrenen Familienrichters sehr offen auf die erheblichen Mängel der in Deutschland üblichen Praxis im Kindschaftsrecht und deren zu einen nicht unerheblichen Teil und spezifisch für die deutsche Gesellschaft historisch (auch aus vermutlich noch nicht ausreichend lange zurückliegenden "vordemokratischen Zeiten", wie Rudolph sie nennt) bedingten Ursachen ein.
Die hier deutlich ausgesprochenen Erkenntnisse sind sehr wichtig in Hinblick auf einen notwendigen Paradigmenwechsel, für den der Autor so leidenschaftlich plädiert. Bei vielen von Trennung / Scheidung selbst Betroffenen werden vermutlich beim Lesen der Ausführungen dazu erneut Schmerzen und Wut ob des in der familienrechtlichen Auseinandersetzung selbst Erlebten aufkommen, aber hoffentlich dazu führen, sich umso energischer für ein menschlicheres Familienrecht einzusetzen. Das wird im ganz besonderen Maße für Eltern gelten, die in äußerst demütigender Weise "entsorgt" wurden, zu Zeiten in denen sich dieser Staat regelmäßig anmaßte, den "besseren Elternteil" zu bestimmen, bis 1982 sogar ohne jede Alternative, selbst bei einem vollen Konsens der Eltern zu bleibender, gemeinsamer Elternverantwortung. Aber selbst nach der Reform von 1998, die diese Praxis in kaum erwarteter Deutlichkeit durch eine rapide Zunahme des Anteils verbleibender gemeinsamer Sorge als völlig unangebracht entlarvte, wird in vielen Köpfen das Sorgerecht immer noch primär als ein Besitzrecht an den Kindern verstanden, das man (der Wohnelternteil) sich als Alleinsorge durch Boykott jeder Kooperation mit dem anderen Elternteil erstreiten kann, wie das auch Urteile der Beschwerdeinstanzen immer wieder bestätigen. Der Autor wendet sich dagegen in bisher kaum erlebter Deutlichkeit, wenn er statt Übertragung des Sorgerechts von Elternteilentzug spricht und darlegt, dass es der gesetzlichen Regelung nach § 1671 II Nr. 1-2 BGB zur Alleinsorge gar nicht bedürfe, weil §1666 BGB ausreichend Maßnahmen bei tatsächlicher, akuter Kindeswohlgefährdung erlaube und im übrigen Elternverantwortung für niemanden zur Disposition stünde. Aus Kapitel II, Seite 35 dazu:
Ohne (inter-)professionelle Intervention entledigen sich die Gerichte des hochstreitigen Verfahres, indem sie einem Elternteil das Sorgerecht entziehen. Dessen Sorge und insbesondere seine Verantwortung, auf die die gemeinsamen Kinder einen Anspruch haben, stehen indessen nicht zur Verfügung des Gerichts und auch nicht eines hypothetischen Gesetzes. ........
Und auf Seite 36: Im Elternstreit wird in der Praxis des Kindschaftsrechts besonders deutlich, dass weniger das Recht des Kindes als vielmehr das Recht auf das Kind im Mittelpunkt der Verfahren steht. Nicht selten weisen solche Verfahren Ähnlichkeiten mit Rechtstreitigkeiten um Eigentumsverhältnisse auf.
Letzteres entspricht allerdings auch überwiegend der Ausbildung der Richter und Anwälte (selbst von Fachanwälten für Familienrecht) für die in Deutschland weiterhin keinerlei verpflichtende interdisziplinäre Ausbildung vorgesehen ist (die derzeitigen Angebote und Kapazitäten von Richterakademien etc. würden dafür auch gar nicht ausreichen), wie es "Kindschaftssachen", ganz anders als andere Rechtssachen, für eine Lösung, die das weitere Leben der Eltern und Kinder auf Dauer maßgebend beeinflusst, eigentlich erfordern würden. Auch Techniken zur Konfliktlösung (statt Regelung durch streitige Entscheidung) zu denen insbesondere interdisziplinäre Vernetzung zählt, sind in Deutschland nicht Gegenstand der Ausbildung der damit notwendigerweise befassten Professionen, beklagt der Autor (z. B. Kapitel I, S. 28).
Die Cochemer Praxis (Kapitel II) entwickelte sich dagegen aus der Erkenntnis, dass nur durch eine solche interdisziplinäre Vernetzung das Ziel erreicht werden kann, im Interesse des Kindeswohls den elterlichen Konflikt zu schlichten und zu einer einvernehmlichen, von den Eltern gemeinsam getragenen und damit nachhaltigen Lösung zu kommen. In dieser Praxis besteht für das Konstrukt der elterlichen Sorge kein Bedarf. Die elterliche Verantwortung ist nicht disponibel. (Antwort auf Nr. 1 aus dem Fragenkatolog, Kapitel IV, S. 79 ff)
Gesetzliche Grundlagen, die eine vernetzte, einvernehmliche Konfliktlösung vorschreiben gäbe es nicht, aber auch keine die sie ausschlößen (und das auch nicht zum Zeitpunkt der Cochemer Konvention von 1993). Erreicht wird dieses Ziel mit großen Erfolg dadurch, dass die im Konflikt befindlichen Eltern in einem frühen ersten Termin zunächst vor einem kompetenten Fachpublikum "Luft ablassen" können und dann einer Beratung zugeführt werden, solange (im schwierigsten Fall bisher waren das 18 Monate), bis sie eine einvernehmliche Lösung erzielen, statt dass der Konfkit noch verschärft wird, weil in Anwaltsschreiben "Schmutzwäsche gewaschen" wird und das Jugendamt sich auf eine Seite stellt, wenn auch nicht immer mit so dürftigen und deshalb eher harmlosen Begründungen, wie der auf S. 40 zitierten: ,,dass das ausreichend ausgestattetete Kinderzimmer sich in einem aufgeräumten Zustand befände, die Kinder gut versorgt seien und daher das Sorgerecht dem dort residierenden Elternteil zu übertragen sei."
Die Eltern werden notfalls zur Kooperation mit dem Beratungsangebot "genötigt", mit Hinweisen auf mögliche Konsequenzen einer Nichtkooperation für das Sorgerecht
(z. B. S. 50). Daran entzündet sich natürlich heftige Kritik aus in erster Linie ideologisch bewegten Gruppen, die wir nicht teilen. Es stellen sich aber auch für
uns Fragen, die wir nicht ausreichend beantwortet sehen.
Wir bezweifeln auch, dass allgemeine Hinweise auf die Möglichkeit der Mediation, auf den sich leider auch die für Mitte 2009 vorgesehene Reform der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (die Elemente der Cochemer Praxis übernimmt) praktisch beschränkt, genügen. Für wesentlich wirksamer und eigentlich erforderlich halten wir (trotz des heftigen Protestes der schon erwähnten Gruppen) Regelungen, wie sie etwa in den meisten amerikanischen Bundesstaaten schon seit vielen Jahren mit Erfolg bestehen. Obwohl Mediation unbestritten die Kooperation beider streitenden Parteien voraussetzt, kann man doch den Versuch einer einvernehmlichen Lösung (Schlichtung) verpflichtend machen, wie das selbst in Deutschland in vielen Rechtsbereichen mit weit weniger gravierenden und langfristigen Auswirkungen schon längst der Fall ist. Selbst die wenigen und kurzen Modellversuche in Deutschland mit freiwilliger, aber gerichtsnaher Mediation haben deutlichen Erfolg gezeigt, und das auch bei Eltern, die dem zunächst sehr skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber standen.
Im benachbarten Österreich ist man aus einer ähnlichen, positiven Erfahrung heraus noch einen Schritt weiter gegangen, der uns besonders wegen der schon erwähntern, fast unausweichlichen Verquickung von (psychologischen) Elternfragen mit (juristischen) praktischen Fragen sehr wesentlich erscheint. Es ist die gerichtsnahe Co-Mediation durch ein Psychologen-Juristen Team, möglichst auch männlich-weiblich. Als weitere wichtige Voraussetzung für einen Erfolg erscheint uns, dass, wie auch beim amerikanischen Modell, die Qualität der Mediation, durch hohe, im Gesetz genau formulierte Anforderungen an die Ausbildung gesichert ist und nicht zuletzt auch, wie ebenfalls in Österreich, dass die Gebühren nach Einkommen gestaffelt sind, also bei Bedürftigkeit der Staat Kosten übernimmt. In den USA kommt als weiteres wichtiges Element und als Präventionsmaßnahme verpflichtender Unterricht über Scheidungsfolgen für die Kinder dazu, mit ebenfalls genau formulierten, hohen Qualifikationsanforderungen an die Dozenten. Als weitere Scheidungsvoraussetzung wird vielfach auch noch ein z. B. in einer Mediation erarbeiteter, gemeinsamer Sorgeplan für die nacheheliche Zeit gefordert, den das Gericht dann noch billigen muss. Die vorgesehene FGG Reform beschränkt sich dagegen im wesentlichen auf bloße Hinweise auf schon bestehende Beratungs-und Mediationsangebote mit nur ganz wenigen Maßnahmen (und das auch nur als Kann-Bestimmungen), die bei nicht kooperationswilligen Eltern wirken könnten. Dafür ist selbstverständlich weder der Cochemer Arbeitskreis, noch der Autor verantwortlich. Es wäre aber sicher hilfreich gewesen, wenn ein so angesehener Richter (und das sogar im europäischen Ausland), wie der Autor, im Buch auf diese Problematik eingegangen wäre.
Auch Leser, die sich von diesem Buch eine genaue Anleitung für die Übernahme der Cochemer Praxis erwarteten, würden enttäuscht sein. Dafür wäre sicher ein
Handbuch mit Beiträgen aller am Arbeitskreis beteiligten Professionen besser geeignet. Auch fehlen die Fundstellen zu wichtigen Urteilen und Fachliteratur, selbst dann, wenn auf diese
ausdrücklich Bezug genommen wird, und erst recht ein Stichwortverzeichnis, das man heutzutage als Rohfassung wenigstens sogar automatisch herstellen könnte. Insgesamt kann
man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass das Buch unter erheblichem Zeitdruck geschrieben wurde, was bei den vielfältigen Verpflichtungen des Autors auch verständlich sein
mag. Das kleine (und mit 9,90€ nicht teure) Buch ist aber trotzdem absolut lesenswert, weil es offen und ehrlich die Ansichten und das leidenschaftliche Bemühen des Autors um
eine Verbesserung der in Deutschland vorherrschenden Praxis im Kindschaftsrecht im Sinne eines wahren Kindeswohls widerspiegelt.