Entfremdete Scheidungskinder?


Unter diesem Titel erschien in der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ) Heft 6/2007, S. 218 -224, ein Aufsatz der amerikanischen Psychologin Janet R. Johnston, für deren Übersetzung und Bearbeitung Petra Milhoffer (Erziehungswissenschaftlerin, U. Bremen) und Siegfried Willutzki (Familienrichter a. D. und Schriftleiter bei ZKJ) verantwortlich zeichnen. Mit dieser Fragestellung sorgte der Aufsatz für einige Unruhe und Verwirrung unter mit dem Phänomen der Eltern-Kind-Entfremdung (PAS) befassten Personen. Deshalb wollen wir uns hier mit diesem Aufsatz, der Originalarbeit ,,Children of Divorce Who Reject a Parent and Refuse Visitation: Recent Research and Social Policy Implications for the Alienated Child", Family Law Quarterly 2005, Vol. 38, Nr. 4, 757 -775, und dem Hintergrund dieser Debatte genauer befassen.

Zunächst ist es allein schon äußerst ungewöhnlich bei einer Übersetzung eines Fachaufsatzes, die Anspruch auf Professionalität erheben will, den Originaltitel [zugegeben etwas sperrig, aber in der Fachliteratur durchaus üblich, wörtlich etwa: Scheidungskinder die einen Elternteil ablehnen und Besuchskontakte verweigern: Aktuelle Forschungsergebnisse und Folgerungen für sozialpädagogische Grundsätze zum Entfremdeten Kind] in einer Weise zu verändern, die sonst eigentlich zwecks besserer Vermarktung nur bei der Synchronisation von Hollywood Filmen üblich ist. Wenn durch den neu gewählten Titel noch dazu etwas suggeriert wird, was im Kern nicht den Aussagen des Aufsatzes entspricht, erscheint uns dies besonders bedenklich. Im Aufsatz dieser mit Hochkonfliktfällen bestens vertrauten Autorin wird niemals in Frage gestellt, dass es entfremdete Scheidungskinder gibt und sie die besondere Aufmerksamkeit von Therapeuten und Familiengerichten erfordern, wenn sie auch den Begriff breiter fasst als dies ihrer Ansicht nach R. A. Gardner in seiner Beschreibung des Parental Alienation Syndroms tat und deshalb auch nicht alle seine von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen uneingeschränkt unterstützt. VfK Logo
     
Der Vergleich zwischen Originalarbeit und ZKJ Fassung zeigt zahlreiche weitere ganz erhebliche Abweichungen, die als solche nicht gekennzeichnet sind und aus Gründen der besseren Lesbarkeit in keinster Weise erforderlich erscheinen. Die Übersetzung einer Reihe von Worten entspricht auch schlicht nicht der Bedeutung im aktuellem amerikanischen, allgemeinen oder fachlichen Sprachgebrauch. Abgesehen von aus dem Zusammenhang erkennbaren und deshalb eher harmlosen oder komischen Dingen, wie der Übersetzung des salopp gebrauchten, aber im Amerikanischen durchaus üblichen Ausdrucks "goodies", der im vorliegenden Zusammenhang offensichtlich allgemein Verlockungen (durch einen Elternteil) bedeutet, mit "Süßigkeiten", ist dies teilweise Akzent verschiebend, wenn nicht sinnentstellend und ist dann nicht nur eine Frage des persönlichen Geschmacks. Das scheint uns der Fall zu sein, wenn z. B. "abuse" stets mit ,,Missbrauch" übersetzt wird, obwohl damit im Amerikanischen keineswegs nur sexueller Missbrauch (sexual abuse) gemeint ist, sondern im vorliegenden Zusammenhang jede Art von körperlicher oder seelische Misshandlung, wie etwa häuslische Gewalt. Vielleicht noch gravierender, wenn das von Johnston offenbar statt des engeren psychiatrischen Fachausdruckes "parentification" (Parentifizierung) gebrauchte Wort "role-reversal"  (Rollenumkehr) mit "Überidentifikation" übersetzt wird. (Zur Parentifizierung, d.h. als Kind die Partner- oder Betreuerrolle übernehmen, vgl. z. B. Judith S. Wallerstein, Julia Lewis, Sandra Blakeslee, The Unexpected Legacy of Divorce: A 25 Year Landmark Study, 2001, Kap.1, "When a Child Becomes the Caregiver" , und die weitere, umfangreiche psychologische Fachliteratur, speziell auch im Zusammenhang mit Trennung / Scheidung. Auch mittels einer allgemein zugänglichen, bekannten Suchmaschine im Internet findet man mit "parentification AND divorce" 21200 Zitate, mit "Parentifizierung UND Scheidung" immerhin 9830 deutschsprachige Einträge. Das Thema müsste also auch Fachübersetzern gut bekannt sein. Aber über diese Probleme der Übersetzung / Bearbeitung sollte der Leser am besten selbst befinden.

Anders als die sehr zahlreichen, unqualifizierten Angriffe auf das PAS Konzept und auf dessen Schöpfer, R. A. Gardner, sogar persönlich (und das selbst nach seinem Tod in 2003) verdient sachliche Kritik als wesentlicher Aspekt der Wissenschaftlichkeit stets volle Aufmerksamkeit und das besonders, wenn sie von so qualifizierten Scheidungsforscherinnen wie Joan Kelly & Janet Johnson kommt, die die in obiger Arbeit verwendete Formulierung des Problems, "alienated child" (entfremdetes Kind), unter Vermeidung des kontroversen PAS  Begriffes, ursprünglich präsentierten: Joan B. Kelly; Janet R. Johnston, The alienated child: A reformulation of parental alienation syndrome, Family Court Review,. Vol. 39(3) Juli 2001, S. 249-266. Beide Autorinnen (aus der kalifornischen Schule um J. Wallerstein) sind aus ihrer langen klinischen Erfahrung mit Hochkonfliktfällen und damit auch mit Eltern-Kind-Entfremdung bestens vertraut, vgl. z. B.: Janet R. Johnston & Vivienne Roseby, In the Name of the Child.  A Developmental Approach to Understanding and Helping Children of Conflicted and Violent Divorce, The Free Press, New York (1997).  Kap. 8, Parental Alignments and Alienation Among Children of High-Conflict Divorce, befasst sich speziell mit der Psychologie von PAS. "Alignment" für ein mit dem entfremdenden Elternteil in seiner Haltung gleich "ausgerichtetes" Kind ist der ursprünglich von Wallerstein und Kelly in Surviving the Breakup, 1980 (vgl. S. 77 ff.), verwendete Begriff für Eltern-Kind-Entfremdung. In besonders krassen Fällen, mit einem rachsüchtigen, entfremdenden Elternteil, sprachen J. Wallerstein & S. Blakeslee auch von einem "Medea Syndrome" (in Second Chances, 1989, S. 195-198, zitiert auch in Warshak, 2005, S. 189; vgl. auch Fenchel, 1998).  

Wie es sich in der Wissenschaft gehört, haben verschiedene Autoren zum neuen Konzept "Das entfremdete Kind" von Kelly&Johnston, 2001, Stellung genommen, natürlich auch Gardner, 2002 (deutsche Übersetzung) und posthum in ,,Commentary on Kelly & Johnston's The Alienated Child. A Reformulation of Parental Alienation Syndrome", Family Court Review 42 (4), 611–621, 2004, worauf wiederum Johnston & Kelly antworteten: .REJOINDER TO GARDNER'S "COMMENTARY ON KELLY AND JOHNSTON'S 'THE ALIENATED CHILD: A REFORMULATION OF PARENTAL ALIENATION SYNDROME'"Family Court Review 42(4), 622–628. Erwartungsgemäß etwas distanzierter als die Autoren dieser Arbeiten selbst sieht das R. A. Warshak, 2001 und in ,,Eltern-Kind-Entfremdung und Sozialwissenschaften. Sachlichkeit statt Polemik", ZfJ 5/2005, spez. Kap.III.7, Die Formulierung ,,entfremdetes Kind". Daraus das Zitat:

Alternative Begriffsbildungen zu PAS, wie das Medea-Syndrom von Wallerstein, haben nicht ein annähernd vergleichbares Volumen an Literatur hervorgebracht. Eine neuere Formulierung hat aber mehr Interesse hervorgerufen als andere. Als Reaktion auf die Besorgnis  über Fehldiagnose und Missbrauch von PAS bei Gericht hat eine Gruppe aus Nordkalifornien empfohlen, den PAS-Begriff durch den Begriff ,,entfremdetes Kind“ zu ersetzen und diese Bezeichnung zur Beschreibung aller Kinder zu benützen, die ständige und  unvernünftige negative Gefühle und Meinungen über einen Elternteil äußern.68 Diese Formulierung hebt die Wichtigkeit multipler Faktoren hervor. Sie sieht keine Notwendigkeit, eine Subkategorie für Kinder zu schaffen, deren Entfremdung primär durch den favorisierten Elternteil beeinflusst ist und findet es nicht nützlich, dieses Phänomen als „Syndrom“ zu bezeichnen. Abgesehen von der Ablehnung des Konzeptes eines favorisierten Elternteils als primärer Ursache von Entfremdung, sind die meisten Aspekte dieser Formulierung identisch oder konsistent mit der PAS Literatur.
Die Aspekte der Ähnlichkeit umfassen die Begründung auf klinischer Erfahrung, statt auf systematischer empirischer Forschung und die Unterscheidung zwischen entfremdeten Kindern und Kindern, deren Ablehnung in der Misshandlung durch den entfremdeten Elternteil begründet ist (ein Phänomen, das diese Formulierung als „estrangement“ bezeichnet). Sie umfasst ferner die Liste der Charakteristiken irrational entfremdeter Kinder, die Beschreibung von bei Entfremdung wirksamen psychologischen Faktoren, die Ansicht, dass Eltern-Kind-Beziehungen als Kontinuum existieren sowie die Ansicht, dass die Mehrheit der Kinder aus geschiedenen Familien positive Beziehungen zu beiden Elternteilen haben. Beide Formulierungen betrachten irrationale Entfremdung als pathologisch und befürworten die Durchsetzung des Kontaktes zwischen entfremdeten Kindern und ihren abgelehnten Elternteilen (obwohl die Autorinnen des Modells ,,entfremdetes Kind“ Sorgerechtswechsel nicht so stark befürworten, wie es Gardner tut); beide sind für ihre Befürwortung gerichtlicher Zwangsmaßnahmen kritisiert worden. 69
Ausführlich und mit ähnlichen Schlussfolgerungen setzt sich auch die langjährige Sachverständige Leona M. Kopetski mit den beiden Formulierungen in einem ingesamt sehr lesenwerten Kommentar (The International Handbook of Parental Alienation Syndrome, 2006, Kap. 29) auseinander. Andere nannten die Unterscheidung der beiden Konzepte "a distiction without a difference".

FN. 68 bezieht sich auf Kelly&Johnston, 2001. FN. 69 zu Kritik bezieht sich ebenso wie FN. 11 (12 in der ZKJ Fassung) in Johnston, 2005, auf den Aufsatz von Carol Bruch, 2002 (pdf Datei), der auch in FamRZ 2002, Heft 19, S. 1304-1315, als ,,Parental Alienation Syndrome und Parental Alienation: Wie man sich in Sorgerechtsfällen irren kann" erschienen ist (mit der Unterstützung von Prof. Dr. Ludwig Salgo, Prof. Dr. Gisela Zenz und Barbara Juenger, Ph.D.). Johnston geht an dieser Stelle auf die Kritik von Frauenrechtlerinnen ein:

Women's advocates have scathingly rejected Gardner's formulation as "junk science" and reflective of institutional and social biases that victimize women. [11] Übersetzt etwa:   
Frauenrechtlerinnen haben Gardners Formulierung als ,,junk science"  [Ramschwissenschaft] und als Widerspiegelung institutioneller und sozialer Vorbehalte, die Frauen schaden, höhnisch abgelehnt. [11]  Daraus wird jedoch in der ZKJ Fassung, offenbar in Verkennung der Bedeutung von "advocate" im Amerikanischen:
Rechtsvertreterinnen betroffener Frauen haben Gardners Deutungsformel demgegenüber als ,,junk science" (,,Abfallwissenschaft") klassifiziert. Sie deuten sie als Widerspiegelung institutioneller und sozialer Vorbehalte, um Frauen zu schaden. [12]

Frau Bruch ist zwar Juristin, hat aber, wie Gardner in seiner angesichts ihrer persönlichen Angriffe auf ihn sehr zurückhaltenden Replik (deutsche Übersetzung) zu ihrem Aufsatz eingangs erwähnte, anders als er als langjähriger psychiatrischer Sachverständiger, ihrer Biografie nach nie praktisch, d.h. als Anwältin oder Richterin, mit Kindschaftsrecht und speziell mit Hochkonfliktfällen zu tun gehabt. Hier ist wie sie es selbst sieht:

  "I have raised two children, first during my marriage and then as a single parent," Bruch said. "I see the working of the law through the eyes of someone who has had a different role from that of attorney and law professor. I feel I have a responsibility to people who otherwise might be voiceless in the legal or legislative arenas."

Wir möchten allerdings auch von FrauenrechtlerInnen mehr Sachlichkeit, statt sogar persönlichen Angriffen (vgl. Abschnitt III.5 Argumentation ad hominem in Warshak, 2005, S. 194) erwarten können. Zweifellos gibt es auch genug Alleinerziehende, die die Sache weit ausgewogener sehen als Frau Bruch. Woran sich die Kritik von FrauenrechtlerInnen zunächst meist entzündet, ist die Benennung eines bewußt oder auch nur unbewußt entfremdenden Elternteils. Anders als Gardner haben wir stets betont, dass PAS auch eine Frage der Macht ist, die in erster Linie der Wohnelternteil besitzt. Wenn dies nun auf Grund der vorherrschenden Sorgerechtsverteilung weit überwiegend die Mütter sind, dann werden auch als entfremdende Eltern überwiegend Mütter in Frage kommen. (Das will aber nicht heißen, dass nicht auch der Nichtwohnelternteil, also meist der Vater, ausreichende Kontakte mit dem Kind vorausgesetzt, versuchen kann es auf seine Seite zu ziehen.) Angesichts solcher Zahlenverhältnisse sind etwaige geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten entfremdender Elternteile irrelevant. Das zeigt sich auch immer deutlicher als die Zahl alleinerziehender Väter und damit auch die Zahl der mit den selben Verhaltensmustern ausgegrenzten, entfremdeten Mütter zunimmt.

Der einzige wirkliche Unterschied besteht im Einsatz von sexuellen Missbrauchanschuldigungen als ,,ultimativer Waffe" in Hochkonfliktfällen, von dem praktisch nur Väter betroffen sind. Ablehnung von Kontakten durch das Kind und einem Elternteil wegen sexuellem Kindesmissbrauch und andere Formen von psychischer und körperlicher Misshandlung, wenn sie zutreffen sollten, ist selbstverständlich keineswegs unbegründet und muss deshalb strikt von irrationaler Ablehnung, wie in PAS, unterschieden werden, worauf auch Gardner immer wieder hinwies, aber vielleicht zu Anfang nicht deutlich genug. Wie in vielen unqualifizierten Angriffen auf ihn und das PAS Konzept beginnt auch Bruch ihren Aufsatz mit einer bewußten Vermengung von sexuellem Kindesmissbrauch und PAS. Neben der Replik von Gardner selbst und der umfangreichen Kritik derartiger Aufsätze in Warshak 2005, lieferte u.a. der promovierte Psychologe und Jurist, Demosthenes Lorandos, Ph.D., J.D., eine wahrlich vernichtende Kritik ihres Aufsatzes in Parental Alienation Syndrome: Detractors and the Junk Science Vaccum, International Handbook of Parental Alienation Syndrome (2006), S. 397-418. Und schließlich spricht auch die Tatsache, dass der Aufsatz von Bruch, der in Deutschland so viel Aufmerksamkeit findet, in der wohl wichtigsten psychologischen Datenbank überhaupt, PsycInfo, der American Psychological Association (APA) keine Aufnahme gefunden hat, obwohl dort derzeit über 100 Arbeiten allein mit dem Suchbegriff ,,parental alienation syndrome" zu finden sind, in unseren Augen eine deutliche Sprache.

Leider ist zu befürchten, dass auch die ZKJ Bearbeitung von Johnston, 2005, ebenfalls zu dieser unzulässigen Vermengung von sexuellem Kindesmissbrauch und PAS führen kann, wenn "abuse", das im Amerikanischen keineswegs nur sexuellen Missbrauch (sexual abuse), sondern in diesem Zusammenhang allgemeiner körperliche oder seelische Misshandlung bedeutet, stets mit ,,Missbrauch" übersetzt wird, selbst dann, wenn es zu einer klaren Bedeutungskollision kommt, wie etwa hier:

The findings were that substantiated child abuse occured in about 15% of the sample, with both mothers and fathers likely to be perpetrators. Forty percent of fathers and 15% of mothers had perpuated domestic violence. Übersetzt: Das Ergebnis war, dass in ungefähr 15% der Fälle aus der Stichprobe nachweisbar Kindesmisshandlung stattgefunden hat, mit beiden,  [sowohl als auch] Mütter und Väter, als Täter wahrscheinlich [in Frage kommend]. Vierzig Prozent der Väter und 15% der Mütter hatten häusliche Gewalt ausgeübt.
ZKJ: Die Studien zeigten, dass in 15% der Fälle nachweisbar Missbrauch stattgefunden hatte, wobei sowohl Mütter als auch Väter in Erscheinung traten. (In 40% der Fälle war von Vätern und in 15% der Fälle von Müttern häusliche Gewalt ausgeübt worden).
[Anm.: Die Verlässlichkeit dieser Prozentsätze ist angesichts der kleinen Stichprobe wohl sehr fraglich. Unklar ist bei dieser Aussage auch, ob die Prozentsätze Väter/Mütter Gewalt gegeneinander einschließen oder sich ausschließlich auf Kindesmisshandlung beziehen. Zu völlig anderen Ergebnissen insbesondere bzgl. letzterem als hier vermutlich impliziert werden soll kommt unter anderen eine umfangreiche Studie (3565 Fälle) MALTRATO INFANTIL EN LA FAMILIA - COMUNIDAD VALENCIANA (1997/1998) des Centro Reina Sofía para el Estudio de la Violencia.(Spanien), ANEXO 20-1. wonach Kindesmisshandlung zu 60,3% von Müttern ausgeübt wurde., in ungefährer Übereinstimmung mit Daten aus anderen Staaten. In "Patchworkfamilien" ist das Risiko 4,6 mal höher und in "Einelternfamilien" sogar 16,9 mal. Zwischen diesen Fallgruppen bestehen allerdings sehr deutliche Unterschiede, wenn Kindesmisshandlung nach Vernachlässigung, körperlicher Misshandlung, psychischer Misshandlung und sexuellem Missbrauch aufgeschlüsselt wird.]  
          
 Anders als diese völlig unzulässige Vermengung von PAS mit der begründeten Ablehnung von Kontakten wegen Misshandlung oder gar sexuellem Missbrauch, kann man Gardner und seinen engsten Anhängern teilweise vielleicht vorwerfen, wie das auch Johnston tut, zu sehr auf einen entfremdenden oder gar programmierenden Elternteil fokussiert zu haben, obwohl Gardner den Eigenanteil des Kindes an der Entfremdung keineswegs übersah. Dieser Eigenanteil, die Allianz mit dem entfremdenden, mächtigeren Elternteil, ist als Auswegversuch des Kindes aus einem schier unlösbaren Loyalitätskonflikt und der kognitiven Dissonanz aus den früheren Erfahrungen mit dem einst ebenfalls geliebten, aber nun abzulehnenden Elternteil zu sehen (vgl. z. B. das Zweiphasenmodell von Jopt&Behrend, 2000.) Dieser Eigenanteil des Kindes an der Entfremdung bedarf noch weiterer empirischer Forschung, besonders deshalb, weil er sich auch entscheidend auf eine eventuelle spätere Erholungsphase von der Entfremdung, wenn die Einflussmöglichkeit des entfremdenden Elternteils nachgelassen hat, auswirkt.

Wenn man nun die Komponente entfremdender Elternteil wegläßt, wie es Kelly & Johnston mit ihrer Formulierung ,,das entfremdete Kind" tun, nimmt man dieser PAS Kritik die Spitze. Und das gilt erst recht, wenn die Entfremdung / Kontaktablehnung um Gründe erweitert wird, die gar nicht irrational sind. Abgesehen von tatsächlicher Misshandlung in der Vergangenheit oder gar Gegenwart, ist es z. B. durchaus verständlich, wenn ein Kind Besuchskontakten reserviert gegenüber steht, die nicht an seine Bedürfnisse angepasst sind und es nur von geliebten, gemeinsamen Aktivitäten mit Gleichaltrigen fern hält (ausführlich dazu Wallerstein et al., 2001). Selbst ohne Trennung / Scheidung gibt es auch manchmal ein eher distanziertes Verhältnis zu einem Elternteil, wenn dieser z. B. übermäßig rigide und fordernd ist. Man kann Johnston, Kelly und anderen PAS Kritikerinnen / Kritikern nur zustimmen, wenn sie fordern, dass alle möglichen Gründe für die Entfremdung oder die Kontaktverweigerung sorgfältig untersucht werden müssen. Dazu gehören auch Gründe, die beim ausgegrenzten, entfremdeten Elternteil liegen könnten. Über letztere zunächst sehr gründlich zu reflektieren, raten wir stets eindringlich Betroffenen. Mit einem bloßen PAS Etikett, und das noch als ausschließliche Schuldzuweisung an den anderen Elternteil, wird das Problem sicher nicht gelöst. Man muss dabei ja nicht so weit gehen, dass man das was der große amerikanische Dichter Mark Twain (1835 -1910) sehr humorvoll so beschreibt:

"When I was a boy of fourteen, my father was so ignorant I could hardly stand to have the old man around. But when I got to be twenty-one, I was astonished at how much the old man had learned in seven years." 
[ Als ich ein Junge von vierzehn war, war mein Vater so ignorant, dass ich den alten Mann in meiner Nähe kaum aushalten konnte. Aber als ich einundzwanzig wurde, war ich erstaunt, wieviel der alte Mann in sieben Jahren gelernt hatte.]
als Entfremdungsproblem sieht, statt einer normalen pubertären Ablösungsphase. Dazu passt auch (
Charles Wadsworth, unklar welcher, der Prediger und Freund der Dichterin Emily Dickinson, aber auch dem bekannten Musiker zugeschrieben.):

 By the time a man realizes that maybe his father was right, he usually has a son who thinks he's wrong.
 [ Zum Zeitpunkt in dem ein Mann einsieht, dass sein Vater vielleicht recht hatte, hat er für gewöhnlich einen Sohn der denkt, er liegt falsch.], vgl. D. Charles Williams, Ph.D, THE LIFE CYCLE OF FATHER-SON RELATIONSHIPS.

Im Ernst bedeutet dies aber nicht nur, dass man, wie schon erwähnt, als getrennter Elternteil die Besuchskontakte altersgemäß gestalten sollte, sondern auch, dass Eltern-Kind-Entfremdung, was Beeinflussbarkeit, Resilienz und die Reaktionen des Kindes betrifft, wesentlich vom Alter des Kindes abhängt. Darauf weisen auch Johnston & Roseby, 1997, in ihrem Buch immer wieder hin. Bei den von Johnston, 2005, und in ZKJ 2007 angeführten empirischen Untersuchungen zur Untermauerung ihrer Vorstellungen fehlt jedoch diese Differenzierung. Zudem wurden die relativ kleinen Stichproben nicht spezifisch für diese Untersuchungen zusammengestellt, sondern sind klinische Akten aus bereits vorhandenen Begutachtungen, und das mit einer recht geringen Zahl ,,entfremdeter Kinder" im Alter von etwa 5-13, was mehrmals kritisiert wurde und von der Autorin früher auch eingeräumt wurde, vgl. z. B. Warshak, 2005, S. 196, FN.70 zu Janet R. Johnston, Parental Alignments and Rejection: An Empirical Study of Alienation in Children of Divorce, 2003.          

So sehr wir der Notwendigkeit einer sorgfältigen Prüfung aller möglichen Gründe für eine Kontaktverweigerung oder Entfremdung zustimmen, so meinen wir doch, dass es sich lohnt eine Untergruppe ,,entfremdeter Kinder" zu betrachten, bei denen die Entfremdung teilweise auf den Einfluss eines Elternteils zurückzuführen ist, ganz im Sinne der modifizierten PAS Definition von Warshak, 2005.

 1. Ablehnung oder Verunglimpfung eines Elternteils die das Ausmaß einer Kampagne erreicht, d.h. von Dauer ist, statt auf gelegentliche Episoden beschränkt zu sein
2. Die Ablehnung ist unbegründet, d.h. ist nicht eine angepasste Reaktion des Kindes auf das Verhalten des ausgegrenzten Elternteils
3. Die Ablehnung ist teilweise auf den Einfluss des anderen Elternteils zurückzuführen.
Alle drei Elemente müssen gleichzeitig vorhanden sein damit von PAS gesprochen werden kann
. 

Läßt man nämlich Element 3 einfach weg, wird man das Problem vielfach nicht lösen können. Dabei muss der negative Einfluss des entfremdenen Elternteils nicht einmal das Ausmaß erreichen, wie ihn Judith Wallerstein & Sandra Blakeslee mit dem "Medea Syndrome" so drastisch beschrieben haben (und das unseres Wissens nach, ohne dafür, anders als Gardner, von FrauenrechtlerInnen angegriffen worden zu sein), oder wie er in zahlreichen Gerichtsurteilen, auch aus Deutschland, oder auch vom  Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (z. B. Koudelka g. Tschechien, 2006 und Zavrel g. Tschechien, 2007 u.a.) sehr eindringlich beschrieben wird, das leider aber praktisch immer erst nach langen Jahren der Entfremdung und zu einem Zeitpunkt (point of no return) in dem Einsicht und Umkehr kaum noch zu erwarten sind, mit irreparablen Schaden für das Kind und die Eltern-Kind-Beziehung (nicht selten auch mit einer späteren Ablehnung des entfremdenden Elternteils, vgl. z. B. Baker, 2007).  

Weit besser ist es zunächst präventiv vorzugehen, wie schon lange z. B. in den USA üblich, mit verpflichtender Unterrichtung der Eltern (als Scheidungsvoraussetzung) über Trennungs / Scheidungsfolgen für die Kinder, und wenn nötig im Konfliktfall möglichst frühzeitig auch verpflichtender, vom Gericht angeordneter und überwachter Familientherapie, so wie das z. B. auch Johnston & Roseby ,1997, im Detail beschrieben. Beides stößt in Deutschland, als "Zwangsberatung" und "Zwangstherapie" teilweise auf dogmaartige, vehemente Ablehnung, obwohl mit der expliziten Zulassung einer lösungsorientierten Diagnostik (allerdings nur als Kann-Bestimmung), statt der bisherigen reinen Statusdiagnostik im FGG Reformgesetz (ab Mitte 2009) ein kleiner, aber sehr wichtiger Schritt getan wird. In Extremfällen können auch weitere Maßnahmen, die mehr oder weniger auf vom Gericht ausgeübten Zwang hinauslaufen, erforderlich werden. Auch das weiß Johnston aus ihrer reichlichen Erfahrung und ist deshalb in der Lage sehr differenziert die Notwendigkeit einzelner Maßnahmen, bis hin zum Sorgerechtswechsel oder Fremdunterbringung zu begründen. Das kommt vor allem in der Originalversion ihres Aufsatzes deutlich zur Geltung, mit u. E. einer Akzentverschiebung in der ZKJ Fassung.

Johnston befürwortet die Durchsetzung des Umgangsrechts (Kap. V), wenn vorher Vorteile, Nachteile und eventuelle Risiken sorgfältig abgewogen wurden und die Gefühle, Ängste und Wünsche der Kinder ernst genommen werden, ohne aber jüngeren Kindern ein einseitiges Vetorecht gegen eine vernünftige Umgangsregelung einzuräumen.
In Kap. VI setzt sie sich zunächst mit den Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensstörungen stark entfremdeter Kinder im Vergleich zu nichtentfremdeten Kindern auseinander und danach mit den Persönlichkeitsmerkmalen entfremdender Elternteile und der Notwendigkeit einer therapeutischen Intervention:

With respect to the parents' need for mandated treatment, we argue that alienating behavior by parents is a malignant form of emotional abuse of children that needs to be corrected, whether a parent agrees or not.
Bezüglich der Erfordernis für eine angeordnete Therapie der Eltern argumentieren wir, dass entfremdendes Verhalten durch Eltern eine Form bösartiger emotionaler Misshandlung von Kindern ist, die korrigiert werden muss, ob der Elternteil zustimmt oder nicht. Daraus wird in
ZKJ: Was die Anordnung einer therapeutischen Behandlung (mandated treatment) für Eltern angeht, so sprechen sich Johnston u.a. dafür aus, entfremdendes Verhalten (alienating behaviour) auch ohne das Einverständnis der Eltern dann zu behandeln, wenn es sich als bösartige Form eines emotionalen Missbrauchs erweist.

In Kap. VII  beschäftigt sie sich mit vom Gericht angeordneter Therapie und deren Chancen (bei frühzeitiger Intervention), bzw. möglichen Pattsituationen, Themen die wegen des Fehlens systematischer Forschungsergebnisse, besonders über die Langzeitperspektiven weiter diskutiert würden. Vgl. dazu aber z. B. Baker 2007, aus der Befragung von 40 jetzt erwachsenen "PAS-Kindern". 

Kap.VIII diskutiert unter welchen Voraussetzungen ein Wechsel im Hauptwohnsitz und betreuendem Elternteil des Kindes angezeigt ist.:

For children, questions about the appropriate custodian need to be raised if the child has a severe psychological dysfunction (DSM-IV Axis I disorders), antisocial behavior, or evidence of emotional trauma due to neglect and abuse. In each of these cases, changing custody to the rejected parent or placement with a third party and supervised contact with the custodial parent should be seriously considered.
Bezüglich Kindern ist es notwendig die Frage nach dem geeigneten Betreuer dann zu stellen, wenn das Kind eine ernsthafte psychische Dysfunktion (DSM IV Axis I Störung), asoziales Verhalten oder Hinweise auf ein emotionales Trauma durch Vernachlässigung oder Misshandung zeigt. In jedem dieser Fälle sollte ein Wechsel der elterlichen Sorge zum abgelehnten Elternteil oder Unterbringung bei einer dritten Partei und begleitetem Umgang mit dem [Anm.: bisher] betreuenden Elternteil ernsthaft in Betracht gezogen werden.    
ZKJ: Auf das Kind bezogen stellt sich die Frage angemessener Betreuung dann, wenn das Kind erhebliche psychische Störungen, asoziales Verhalten oder emotionale Traumata aufweist, die einer Vernachlässigung oder einem Missbrauch geschuldet wird. In diesen Fällen sollte ein Sorgerechtswechsel zum abgelehnten Elternteil oder aber die Unterbringung an einem dritten Ort bzw. zumindest ein begleiteter Umgang mit dem betreuenden Elternteil in Betracht gezogen werden.

Dass Gardner, der zwar ganz ähnliche Positionen bezog, dabei aber vielleicht weniger zurückhaltend war und mit seiner Einteilung in drei Kategorien und den zu ergreifenden Maßnahmen, je nach Schweregrad der Symptome beim Kind und entfremdenden Elternteil zu schematisch vorging, also vielmehr eine sorgfältige Abwägung aller Elemente im Einzelfall notwendig ist (wie er es vermutlich als beauftragter Sachverständiger im Einzelfall auch tat) kann ohne Einschränkungen akzeptiert werden. In diesem Sinne herrscht also sehr breite Übereinstimmung zwischen den Konzepten "PAS" und "entfremdetes Kind", wie es auch Warshak, 2005 konstatierte.
In ihrer Schlussfolgerung (Kap. IX) betont Johnston:

In summary, what helps is early prevention of alienation, a good assessment of multiple factors that contribute to alienation within the child and family, clear court orders that affirm parental right and restore an appropriate access plan (one that the child can tolerate); ongoing case management and family-focused therapy (not just parent-child reunification).
Zusammenfassend, was hilft, sind frühzeitige Prävention von Entfremdung, eine gute Einschätzung der multiplen Faktoren die zur Entfremdung im Kind und in der Familie beitragen, klare gerichtlicher Anordnungen, die elterliche Rechte bestätigen und einen angemessenen Umgangsplan (einen den das Kind tolerieren kann) wiederherstellen; fortgesetzte Fallbetreuung und familienzentrierte Therapie (nicht nur Eltern-Kind Wiedervereinigung).
Und mit erheblichen Abweichungen in
ZKJ: Wirksam ist demgegenüber eine frühzeitige Prävention von Entfremdung durch rechtzeitige Beratung, die gründliche Bestandsaufnahme der vielfältigen Faktoren, die zu einer Entfremdung von Kind und Eltern beigetragen haben, klare gerichtliche Anordnungen die die Rechte der Eltern unterstützen, eine angemessene Fallbetreuung (die das Kind mittragen kann), sowie eine kontinuierliche sozialpädagogische Kontaktpflege [Anm.: ist hier das deutsche Jugendamt gemeint?] und familienzentrierte Therapieangebote.

Ein "Laissez faire", also ein Nichtstun bis zur "Erledigung " der "Kindschaftssache" durch Resignation des ausgegrenzten Elternteils oder Zeitablauf (Volljährigkeit), eventuell unter Zuhilfenahme des "Wundermittels" Umgangsausschluß, läßt sich jedenfalls aus beiden Konzepten, PAS oder "entfremdetes Kind", mit Bestimmtheit nicht ableiten. 

Wesentliche Inhalte der Originalarbeit sind auch aus Vorträgen von J. R. Johnston zugänglich:
 
Janet R. Johnston, RETHINKING PARENTAL ALIENATION AND REDESIGNING PARENT-CHILD ACCESS SERVICES FOR CHILDREN WHO RESIST OR REFUSE VISITATION, Vortrag am Staatsinstitut für Frühpädagogik München, 9-10. Juli, 2001.
 
Janet R. Johnston, The Psychological Functioning of Alienated Children & Parents in Custody Disputing Families, Keynote delivered at ICCD, Norwich, GB. July 24-27th, 2006.

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